Um seinen Lieblingskünstler zu erleben, muss man nicht reisen, sondern kann einfach warten, bis er in jener Stadt Halt macht, wo man seinen Wohnsitz hat. Diese Devise hat man sich beim Bergen International Festival schon lange auf die Fahnen geschrieben. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Veranstalter mehr bieten wollen als „nur“ Musiker von Weltrang in zeitlich dichter Folge zu präsentieren. Experimente mit besonderen Konzertformaten sind spätestens seit der Intendanz von Anders Beyer an der Tagesordnung. 2012, zu Beyers erster Spielzeit, gab es etwa die Reihe „Wohnzimmer – Geheime Hauskonzerte“, in der Künstler ihre Häuser für Konzerte öffneten. Ticketkäufer wussten nur Datum und Uhrzeit, nicht aber die Adresse der Veranstaltung, die erst kurz vor Beginn per SMS mitgeteilt wurde. Auch das Bestreben, möglichst viele Schichten der Bevölkerung zu erreichen, ist in die DNA des Festivals eingeschrieben. So fanden sich vor einigen Jahren demente und behinderte Menschen in Bergens Grieg-Halle ein und sangen gemeinsam unter Anleitung professioneller Musiker. Überhaupt scheint während der zwei Festivalwochen ganz Bergen in Musik getaucht, wenn an zahllosen Orten, ganz gleich ob drinnen oder draußen, Konzerte stattfinden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Musik ist nur eine Kunstdisziplin beim Bergen Festival, das auch exquisite Theater- und Tanzaufführungen auf dem Programm hat und sich darüber hinaus der Malerei und bildenden Kunst verschrieben hat. Auch die zahlreichen Diskussionsforen, an denen oft auch die Künstler des Festivals teilnehmen, haben hier einen großen Stellenwert. So finden in Norwegens zweitgrößter Stadt über hundert Veranstaltungen in einem Zeitraum von zwei Wochen statt. Das künstlerische Betätigungsfeld schlägt sich in den drei Worten Friction, Foundations und Festivities (Spannungen, Grundstock, Feierlichkeiten) nieder: Man wagt Experimente, setzt auf Bewährtes – und feiert ausgelassen die Kultur Norwegens und der Welt. Diesmal richtet sich unter der Devise „This Is America?“ der vertiefende Blick in Richtung USA mit Missy Mazzoli als Festivalkomponistin, die auch vor Ort sein wird unter Wahrung aller gebotenen Quarantäneregeln.
Das Festival Bergen von überall auf der Welt miterleben
In diesem Jahr musste – wie bei allen Festivals der Welt, die nicht abgesagt worden sind – alles unter Vorbehalt geplant werden, denn das letzte Wort hat auch in Bergen die epidemiologische Gesamtsituation. Ob und welche Künstler in Norwegen einreisen dürfen, wird sich womöglich erst kurz vor Festivalbeginn zeigen, und die Konzertorte müssen den örtlichen Hygienevorschriften Genüge leisten. Nun rechnet sich also, dass Norwegen nicht wenige Künstler von Weltrang hat, die keine Einreisehürden nehmen müssen. So werden – mit großer Sicherheit – etwa die Trompeterin Tine Thing Helseth oder die Violinistin Mari Samuelsen zu erleben sein. Natürlich wird auch wieder das Philharmonische Orchester Bergen vertreten sein, das auch an der Festivalgründung 1953 beteiligt war.
Wie 2020 bereits geschehen finden auch in diesem Jahr viele Veranstaltungen auch über digitale Kanäle statt – was wiederum bedeutet, dass man von überall auf der Welt das Bergener Festival miterleben kann. Ein gutes Omen ist, dass „The American Moth“ als Eröffnungsveranstaltung stattfinden kann. In dieser internationalen Koproduktion mit der Nationaloper in Oslo, dem Nationaltheater Taipeh und dem Kennedy Center in Washington erschafft der norwegische Dramatiker, Regisseur und Choreograf Alan Lucien Øyen einen multimedialen, mehrsprachigen Hybrid aus Theater, Tanz und Videoperformance, für den die norwegische Starschauspielerin Liv Ullmann gewonnen werden konnte. Sicherlich wird die Produktion nicht nur vor Ort, sondern auch in der Liveübertragung wirkungsmächtig und eindrucksvoll sein. Man sollte sie als Einladung verstehen, das Festival zum Anlass für eine Reise nach Bergen zu nehmen – sobald dies wieder möglich ist.