Protagonisten, eingeschnürt im zu engen Korsett der Ehre, tragische Liebesbeziehungen und die Wahl des Freitods als scheinbar einziger Ausweg aus der Misere: Das einfache Happy End sucht man im Musiktheater der diesjährigen Bregenzer Festspiele vergebens. Dafür wartet das Festival mit großer Oper, Ur- und Erstaufführungen und abwechslungsreichen Orchesterkonzerten auf.
Ein leiser Paukenwirbel erklingt zu Beginn der 77. Ausgabe, die mit Verdis „Ernani“ am 19. Juli eröffnet wird. Lotte de Beer, Direktorin der Wiener Volksoper, inszeniert das Frühwerk, in dem drei Männer aus Liebe zu derselben Frau gegenseitige Rache schwören, als abstraktes Sinnbild für die Unfähigkeit menschlichen Zusammenlebens. Verdi erzähle das jedoch „auf eine so unterhaltsame Buffoweise, dass wir auch über uns lachen können“, sagt de Beer. Die musikalische Leitung im Festspielhaus übernimmt Enrique Mazzola. Als Conductor in Residence wird er auch die Wiederaufnahme von Puccinis „Madame Butterfly“ dirigieren. Knapp 163.000 Zuschauer hatten im vergangenen Jahr Andreas Homokis kammerspielartige Inszenierung auf der größten Seebühne der Welt gesehen. 26 Vorstellungen folgen bis zum Festivalausklang am 20. August.
Zeitgenössische Literaturopern
Neue Pfade beschreitet Regisseurin Jana Vetten mit ihrer Lesart von Jules Massenets „Werther“. Gemeinsam mit den jungen Sängerinnen und Sängern des Opernstudios entwickelt sie eine „weibliche Perspektive auf den männlichen Subjektivismus und die Konsequenzen für die Menschen in dessen Umgebung“. Am Pult des Symphonieorchesters Vorarlberg steht Claire Levacher.
Japan, Mitte des 19. Jahrhunderts: Um ihre Stadt vor der Zerstörung zu bewahren, wird die junge Okichi genötigt, dem verhassten amerikanischen Konsul als Geisha zu dienen. Doch zu welchem persönlichen Preis? Dieser Frage geht der argentinische Komponist Fabián Panisello in „Die Judith von Shimoda“ nach. Die auf einem Bertolt Brecht-Schauspiel basierende Oper kommt auf der Werkstattbühne zur Uraufführung. Musikalische Anleihen im Barock nimmt indes Philip Venables in seiner Opernadaption von Larry Mitchells „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“. Die 1977 erschienene Vorlage feiert Diversität und sexuelle Vielfalt und gilt als ein Gründungsmythos der queeren Bewegung.
Aus der Vergessenheit holen
Als erstes großdimensioniertes Orchesterwerk einer schwarzen Komponistin überhaupt wurde Florence Prices e-Moll-Sinfonie bei der Weltausstellung 1933 vom Chicago Symphony Orchestra aus der Taufe gehoben – und geriet ebenso schnell wieder in Vergessenheit. Neunzig Jahre später hält die Musik der Amerikanerin langsam Einzug ins Repertoire. Die Wiener Symphoniker holen die Sinfonie nach Bregenz und kontrastieren sie unter Dirk Kaftans Leitung mit Charles Ives’ clusterreichen „Central Park in the Dark“ und Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“, gesungen von Marlis Petersen. In Ayal Adlers Konzert „In Motion“ übernimmt Omer Meir Wellber wiederum die Dreifach-Rolle als Dirigent, Cembalist und Akkordeonist. Umrahmt wird die Uraufführung von zwei weiteren Strauss-Werken.
Folklore und Moderne vermischen sich in Grażyna Bacewciz’ drittem Violinkonzert von 1949, das Solist Benjamin Schmid mit Marie Jacquot am Pult interpretiert. Jean Sibelius’ erste Sinfonie und Maurice Ravels „Valses nobles et sentimentales“ komplettieren den Abend. Das Symphonieorchester Vorarlberg und sein Chefdirigent Leo McFall lassen Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“ Unheil stiften, holen mit Antonín Dvořáks achter Sinfonie böhmische Melodien an den Bodensee und entfachen mit dem Vorarlberger Kian Soltani den grotesken Humor in Dmitri Schostakowitschs zweitem Cellokonzert.
Zu Schubert tanzen die Puppen
Nach der gelungenen Premiere im Vorjahr präsentieren sich Ensembles der Wiener Symphoniker wieder ohne Frack im Seestudio. Ebenso unkonventionell bringen die Musicbanda Franui, Bassbariton Florian Boesch und Puppenspieler Nikolaus Habjan Schuberts „Die schöne Müllerin“ auf die Bühne. Nicht verpassen sollten die Festivalbesucher das Konzert des südafrikanischen Bochabela String Orchestra und des Landesjugendchors Voices: „Zwischen Himmel und Erde“ verbindet Mozarts Requiem mit südafrikanischen Beerdigungsgesängen.