Mit 15 Konzerten, Performances und Installationen und insgesamt 25 Ur- und Erstaufführungen an vier Tagen untersuchen die Donaueschinger Musiktage das Paradox eines Konzertes als zugleich individueller und gemeinschaftlicher Erfahrung und haben dafür erstmals einen Kompositionsauftrag ausschließlich für den digitalen Raum vergeben. Das audiovisuelle Werk der Kölner Komponistin Lucia Kilger schafft mithilfe von Videoaufnahmen, binauraler Aufnahmetechnik und virtueller Verräumlichung des Klangs eine ästhetisch erfahrbare Reflexion der Simultanität verschiedener digitaler Wirklichkeiten.
Donaueschinger Musiktage verhandeln musikalisch die Fragen der Gegenwart
„Wie wir leben, wird ganz wesentlich bestimmt von dem Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe – politisch, sozial, kulturell und ökonomisch. Aktuell wird dieses Verhältnis auch in unserer Gesellschaft neu verhandelt“, sagt Lydia Rilling, unter deren künstlerischer Leitung die Donaueschinger Musiktage seit der Festivalausgabe im letzten Jahr stehen. „Das Festival widmet sich dem Thema aus der Perspektive der Musik und stellt unterschiedlichste Konstellationen zwischen Individuum und Gruppe vor, zum Beispiel durch einen Schwerpunkt auf Konzerte für Solist:innen und Orchester, wozu auch ein Doppelkonzert für menschlichen Solisten und KI-Pianisten zählt; mit verschiedenen räumlichen Anordnungen von Musiker:innen und Publikum wie einem Konzert im Schlosspark in der Dunkelheit oder mit dem Projekt „Shared Sounds“, in dem Geflüchtete, die in Donaueschingen wohnen, eine gemeinsame Performance entwickeln.“
Auch Komponist Enno Poppe greift das Festivalmotto auf, wenn er mit dem Percussion Orchestra Cologne das Drumset als Solo-Instrument verzehnfacht und dem Publikum so das Gefühl gibt, in einem einzigen gigantischen Schlagzeug zu sitzen. Ein posthumes Debüt in Donaueschingen feiert der im Januar dieses Jahres verstorbene Minimal-Music-Pionier Phill Niblock mit der Uraufführung von zwei seiner letzten Kompositionen. Als Solist erstmals bei den Donaueschinger Musiktagen zu hören ist Pierre-Laurent Aimard. In der Mitte des Publikums positioniert, erkundet der Pianist gemeinsam mit dem SWR Experimentalstudio in einem neuen Werk von Mark Andre zerbrechlichste Dimensionen des Klangs.
Komponistinnen verschiedener Generationen im Fokus
„Auch 2024 spielen Komponistinnen eine herausragend große Rolle in allen Bereichen des Programms. Das ist ein zentraler Aspekt meiner Arbeit als Kuratorin“, sagt Lydia Rilling. „Es ist mir ein Anliegen, Künstlerinnen verschiedener Generationen einzuladen – von noch ganz jungen Komponistinnen bis zu bereits älteren, die ihren eigenen Weg gegen alle Widerstände gegangen sind und bisher oft nicht die Anerkennung erhalten haben, die ihnen zusteht.“ So tritt das Kollektiv lovemusic aus Straßburg mit der britischen Komponistin und Vokalistin Laura Bowler auf, die nicht nur ihr eigenes Werk singt, sondern auch die Komposition „Tuxedo: Between Carnival and Lent“ von der in New York beheimateten Hannah Kendall. Der ebenfalls in New York ansässige David Bird spürt in seiner Musik indes einer außerirdischen Intelligenz des Science-Fiction-Autors William Gibson nach.
Komponist und Saxofonist Roscoe Mitchel, der schon zu Festivalbeginn als Solist mit dem SWR Symphonieorchester in Dialog mit einer KI tritt, verbündet sich bei seinem zweiten Auftritt mit dem italienischen Schlagzeuger Michele Rabbia und dem Berliner Klangkünstler und Improvisationsmusiker Ignaz Schick zu einem Trio. Das britische Duo Rubbish Music betätigt sich schließlich vor Ort in Donaueschingen als Müllsammler und erforscht mit Klängen weggeworfener Objekte deren Geschichten, Verwandlungen und Auswirkungen auf unseren Planeten. Drängende Probleme der Gegenwart greifen auch Claudia Jane Scroccaro, Michael Finnissy und Franck Bedrossian mit ihren neuen Werken auf, die das SWR Vokalensemble und das SWR Experimentalstudio unter der Leitung von Yuval Weinberg zur Uraufführung bringt. Ebenfalls drei Uraufführungen stehen beim Abschlusskonzert mit den Neuen Vocalsolisten, dem SWR Symphonieorchester und Dirigent Vimbayi Kaziboni auf dem Programm: Francisco Alvaro lässt sich von Geräuschen beim Abspielen analoger Kassetten inspirieren, Sara Glojnarić kreiert mit „Ding, Dong, Darling!“ eine kollektive Feier von Queer Joy, und in Chaya Czernowins „Unforeseen dusk: bones into wings“ künden sechs menschliche Stimmen von wilden Empfindungen, die der Tiefe der Körper entspringen.
Klanginstallationen, Workshops und Filmvorführungen
Drei Klanginstallationen begleiten das Festival: Im Karlsgarten verleiht der Kanadier Robin Minard Donaueschingens japanischer Partnerstadt Kaminoyama akustische Präsenz. Die isländische Künstlerin Lilja María Ásmundsdóttir verwandelt die Galerie im Turm in ein großes Instrument, das durch Bewegungen im Raum zum Klingen gebracht wird. Und auch Elsa Biston lädt Besucherinnen und Besucher ein, Klänge mitzugestalten. In den Räumen des Museums Art.Plus inszeniert die Französin eine dichte Landschaft aus vibrierenden und resonierenden Objekten, die in Kurzkonzerten mit United Instruments of Lucilin auch in ihre Komposition mit einbezogen werden. Die Donaueschinger Musiktage bieten zudem ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Podiumsdiskussionen, Führungen, Workshops und Filmvorführungen.