So vielfältig der musikalische Reichtum im Schaffen Georg Friedrich Händels ist, so breit gefächert sind auch die Einflüsse, die auf den Komponisten gewirkt haben. Neben Italien, England und Deutschland ließ sich der Barockmeister von der französischen Kultur und Musik inspirieren. Ein Großteil seiner Opern-Ouvertüren sind etwa dem gallischen Typus aus langsamer Einleitung, schneller Fuge und Tanzsatz verpflichtet, letztere vertonte er wiederum kongenial in den berühmten Feuer- und Wassermusiken. Stücke des Dramatikers Jean Racine dienten ihm als Textquelle für Oratorien. Beachtlich, wenn man bedenkt, dass Händel in seinen 74 Lebensjahren nie in Frankreich gewesen ist. Unter dem Motto „Oh là là! Händel?“ spüren die Händel-Festspiele Halle in diesem Jahr ebenjener Seite ihres Namensgebers nach – mit Opern und Oratorien, Orchester- und Orgelkonzerten, aber auch mit genreübergreifenden Projekten. Vom 24. Mai bis 9. Juni sind 77 Veranstaltungen an 18 Spielstätten in Halle und Umgebung angesetzt.
Blick in Händels Bibliothek
Gleich zu Beginn lösen die Festspiele ihren Anspruch, dem Publikum neben prominenten Werken wunderbare Wiederentdeckungen zu präsentieren ein und zeigen mit „Amadigi di Gaula“ eine selten gespielte Oper des dreißigjährigen Komponisten. Louisa Proske inszeniert den Ritterroman als „halluzinatorische Odyssee“, dabei ist nach langer Zeit wieder das Ballett der Oper Halle eingebunden. Eine Feier aus Tanz und Musik verspricht Emanuele Soavis Projekt „Terpsicore – die Königin tanzt“, das Auszüge aus Händels gleichnamiger Oper mit Stücken seines Zeitgenossen Rameau verbindet, dargeboten von sechs Tänzern, der lautten compagney BERLIN und Wolfgang Katschner im Goethe-Theater Bad Lauchstädt. Diese beiden Komponisten dienen dem Leiter des Händelfestspielorchesters, Attilio Cremonesi, wiederum als Grundlage für sein Pasticcio „Handel’s Library“, das fragt, wie der Hallenser wohl den Stoff der „Manon Lescaut“ vertont hätte. Das Ensemble Opera Settecento überrascht indes in Bernburg mit der Premiere von „Titus l’Empereur“. Das Fragment wird hier erstmals vervollständigt zu erleben sein. Ein weiterer Höhepunkt kündigt sich mit der neuzeitlichen Erstaufführung von „Tolomeo“ in der Fassung von 1730 an, einer der am seltensten gespielten Opern überhaupt. Die musikalische Leitung hat Giovanni Antonini inne. Als Wiederaufnahme aus dem letzten Jahr ist die gefeierte „Serse“-Produktion mit Anna Bonitatibus in der Titelpartie geplant.
Himmlische Reflexionen im Merseburger Dom
Chormusikliebhaber kommen mit fünf Oratorien auf ihre Kosten. Passend zum Schwerpunkt der Festivaledition erklingt mit „Athalia“ eine Vertonung nach Jean Racines gleichnamiger Tragödie, deren Handlung vom Kampf gegen eine Tyrannei aktueller denn je ist. Interessante Kontraste eröffnen sich mit Händels erstem englischsprachigen Gattungsbeitrag „Esther“ – ebenfalls von Racine inspiriert – und seinem kurz vor der Erblindung finalisierten Alterswerk „Jephta“. „Das ist eines der besten Dramen jener Zeit, die emotionale Wirkung ist unglaublich“, sagt der diesjährige Händelpreisträger Christophe Rousset, der „Jephta“ mit seinem Ensemble Les Talens Lyriques interpretiert. Im prächtigen Setting des Merseburger Kaiserdoms, der erstmals als Festspielstätte genutzt wird, reflektieren hingegen Engel, Teufel und weitere biblische Figuren über Tod und Auferstehung Jesu Christi: „La Resurrezione“ von 1708 zählt zu den Raritäten in Händels Oratorienschaffen, das die Merseburger Hofmusik und Michael Schönheit an diesem Abend mit neuem Glanz erfüllen. Natürlich darf das wohl populärste aller Oratorien bei den Festspielen nicht fehlen. In Händels Taufkirche, der Marktkirche zu Halle, bringen das Ensemble Polyharmonique und das Wrocław Baroque Orchestra den „Messias“ in der Dubliner Erstversion zu Gehör.
Liebesarien und eine Uraufführung
Klangopulenz und ein reizvolles Wechselbad der Gefühle erwarten die Zuhörer im Festkonzert „Alcina: Bewitched love – verzauberte Liebe“, wenn Mezzosopranistin Magdalena Kožená Liebesarien von Händel singt, die das La Cetra Barockorchester unter Andrea Marcon mit Instrumentalwerken von Corelli, Marcello und Veracini kontrastiert. Countertenor Lawrence Zazzo leuchtet indes Händels Solokantaten aus und hat mit „Amore uccellatore“ sogar eine Uraufführung im Gepäck. Ohne darüber nachzudenken sollte man das Konzert von Margot Genet und dem Ensemble Castor besuchen, in dem die Sopranistin unter anderem Händels einzige französische Arie „Sans y penser“ singt.
Französische Glanzstücke unter freiem Himmel
Spektakuläre Orgelklänge verspricht Cameron Carpenter, der in der Händel-Halle seinen Einstand bei den Festspielen mit Barockmusik und einer eigenen Bearbeitung von Mussorgskis „Bildern einer Ausstellung“ gibt. Mit Cembalist Jos van Immerseel gastiert hingegen ein Pionier der historischen Aufführungspraxis in Halle. Von der musikalischen Vielfalt zeugen darüber hinaus Crossover-Projekte wie die „Barock Lounges“, in der Jazz- und Folkimprovisationen selbstverständlich neben Musik von Dowland, Wagner und Elvis Presley erklingen und auch Hip-Hop und Weltmusik ihren Platz haben. Zum Festivalausklang sind die Besucher traditionell zu zwei Open Air-Konzerten mit der Staatskapelle Halle in die Galgenbergschlucht eingeladen. Den Schlusspunkt setzen dabei 2024 französische Glanzstücke von Jean-Baptiste Lully bis Camille Saint-Saëns.