Paradiesisch ist die Voralpenlandschaft am Vierwaldstättersee allemal. Dennoch beschreibt das Sommer-Motto des diesjährigen Lucerne Festivals noch deutlich mehr als „nur“ das atemberaubende Panorama, vor dem sich Jahr für Jahr die Weltspitze der Klassik zum gemeinsamen Musizieren versammelt. Denn ein „Paradies“ – so das Motto – kann vieles sein, und so ist es in Zeiten des Klimawandels und des Kriegs in der Ukraine vor allem die Sehnsucht nach der heilen Welt. Das Paradies steht hier als Ideal für etwas, das es nicht (mehr) gibt, vielleicht auch gar nicht geben kann, für etwas, das die Fantasie beflügelt als Sinnbild des ewigen Lebens, einer intakten Natur, des Glücks und des Friedens.
Vor diesem philosophisch aufgeladenen Hintergrund eröffnet das Lucerne Festival, das vor 85 Jahren gegründet wurde und sich seither zu einem der renommiertesten internationalen Klassikfestivals entwickelt hat, seine Sommer-Ausgabe gleich mit einem besonderen Jubiläum. Denn 2003, vor genau zwanzig Jahren, hat Festivalintendant Michael Haefliger mit Claudio Abbado das Lucerne Festival Orchestra ins Leben gerufen, das seinen runden Geburtstag nun mit gleich sechs spektakulären Konzerten begeht.
Spektakuläre Eröffnung mit dem Lucerne Festival Orchestra
Passend zum Motto „Paradies“ steht Mahlers elysisch-monumentale dritte Sinfonie im Zentrum des großen Eröffnungskonzerts am 11. August. Das Lucerne Festival Orchestra, das sich über die Jahre um seinen Beinamen als „Orchester der Freunde“ redlich verdient gemacht hat, spielt unter der Leitung von Dirigent Riccardo Chailly, stimmliche Unterstützung bekommt es von der Luzerner Kantorei sowie vom Chor des Bayerischen Rundfunks. Direkt am Folgetag geht es mit Brahms’ vierter Sinfonie und Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466 mit Maria João Pires als Solistin nicht minder exquisit weiter. Weitere sinfonisch-romantische Schwergewichte bringt das Orchester unter anderem mit Bruckners Achter unter Yannick Nézet-Séguin (19.8.) sowie mit Rachmaninows erster Sinfonie zum Klingen (16.8.). Letztere wird umrahmt von Rachmaninows selten gespieltem viertem Klavierkonzert, bei dem dann auch erstmals der diesjährige artiste étoile Daniil Trifonov zu erleben ist.
Doch wie jedes Jahr sorgen nicht nur die „Gastgeber“ des Lucerne Festival Orchestra, sondern zahlreiche weitere internationale Klangkörper für einmalige Highlights. Neben den Berliner und Wiener Philharmonikern sowie dem Royal Concertgebouw Orchestra sind unter anderem das Boston Symphony Orchestra, das Gewandhausorchester Leipzig, das Oslo Philharmonic und die Staatskapelle Dresden zu Gast im KKL Luzern. Angeleitet werden sie von gefragten Vertretern der jungen Dirigenten-Generation wie Mirga Gražinytė-Tyla, Jakub Hrůša oder Klaus Mäkelä sowie auch von Kirill Petrenko, François-Xavier Roth, Keri-Lynn Wilson, Herbert Blomstedt und Kent Nagano. Letzterer präsentiert Wagners „Rheingold“ mit dem Dresdner Festspielorchester sowie dem Concerto Köln in konzertanter Fassung (22.8.).
Daniil Trifonov als diesjähriger artiste étoile
Auch Solistinnen und Solisten von allerhöchstem Rang reisen in dieser Saison ins beschauliche Luzern. Im Zentrum steht Daniil Trifonov als diesjähriger artiste étoile. Neben Auftritten mit dem Lucerne Festival Orchestra wird der 32-jährige Ausnahmepianist gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra und Daniel Harding Schumanns Klavierkonzert zum Leuchten bringen (23.8.). In einem Recital widmet er sich außerdem Tschaikowsky, Mozart, Ravel und Skrjabin (20.8.). Mit Virtuosität an den Tasten machen beim Festival unter anderem Martha Argerich, Igor Levit, Yuja Wang staunen. Solo-Abende bestreiten außerdem auch Víkingur Ólafsson, András Schiff und Newcomer Mao Fujita. Außerdem ist die Gruppe der Streichinstrumente mit Anne-Sophie Mutter, Antoine Tamestit, Christian Tetzlaff und Isabelle Faust in höchster Vollendung zu erleben.
Mit dem umfangreichen Festivalschwerpunkt „Contemporary“ setzt sich die Lucerne Festival Academy auch mit den zeitgenössischen Künsten auseinander. Ganze neunzehn Uraufführungen innerhalb von vier Wochen stehen dabei auf dem Programm. Composer in Residence Enno Poppe, der die diesjährige Lucerne Festival Academy prägt und insgesamt sieben Werke zum Programm des Sommer-Festivals beisteuert, zählt zu den wichtigsten deutschen Komponisten. Beim Sommer-Festival 2023 tritt er sowohl als Komponist wie auch als Dirigent in Erscheinung. Der Schweizer Komponist Jessie Cox hat zudem ein neues Orchesterwerk zum Thema „Paradies“ geschrieben, welches das Festivalmotto in die heutige Musiksprache übersetzt.
Vierzig Minuten ins Paradies
Vier der Konzerte des Lucerne Festival Contemporary Orchestra werden dabei auch als Teil der „40min“-Reihe zu erleben sein. Dieses beliebte Format feiert als fester Teil des Lucerne Festivals bereits sein zehnjähriges Bestehen und begeht dieses besondere Jubiläums-Special mit gleich drei fantastischen Open-Air-Konzerten auf dem Europaplatz (19.8). Mit dabei ist unter anderem auch Starhornistin Sarah Willis, die gemeinsam mit ihrer Sarahbanda musikalisch-sommerliche „Grüsse aus Havanna“ übermittelt. Diese vierzigminütigen kostenfreien Musikerlebnisse bieten wirklich jedem die Möglichkeit, die ganz großen Künste und ihre Interpreten hautnah zu erleben, kurzzeitig alles andere zu vergessen und sich mitnehmen zu lassen – vielleicht sogar ins Paradies.