Festivalleiter Oliver Wille blickt dankbar zurück auf seine letzten Jahre und optimistisch nach vorn.
Es gibt Grund zu feiern – was ist in diesem Jahr das Besondere an den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker?
Oliver Wille: Das älteste Kammermusik-Festival Deutschlands wird 80! Wir schauen zurück und blicken gleichzeitig nach vorn. Neben der Debüt-Reihe – diesmal mit jungen Pianistinnen und Pianisten der internationalen Steinway Prizewinner Concerts – bringen Martha Argerich, Elisabeth Leonskaja und Helmut Deutsch jeweils junge Musikerinnen und Musiker mit, die sie fördern. Das in der Tradition von John Neumeier entstandene Hamburger Kammerballett kommt genauso erstmals zu uns wie Midori, Katharine Mehrling, Götz Alsmann, Giovanni Sollima oder die preisgekrönte Komponistin Sara Glojnarić. Ein Wiedersehen mit treuen Festivalfreunden wie Carolin Widmann, Sarah Maria Sun oder meinem Kuss Quartett darf nicht fehlen.
Sie haben die Leitung 2016 übernommen. Wie hat sich das Festival in dieser Zeit entwickelt?
Wille: Ich durfte seinerzeit von Carolin Widmann ein sehr gut laufendes Festival übernehmen, welches den Anspruch hatte, sich jedes Jahr neu zu erfinden. Die vielleicht größte Herausforderung war, das sehr besondere Publikum zu packen, trotzdem eine persönliche Note beizusteuern und auch nach und nach eigene Formate zu entwickeln. Mir war wichtig, präsent zu sein – vor und hinter, nicht zu viel auf der Bühne – und alle Veranstaltungen zu besuchen. Vor allem wollte ich den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern Freiheiten geben. Es entstanden inzwischen zehn sehr unterschiedliche Festival-Ausgaben. 2018 stellte ich erstmals einen Komponisten in den Vordergrund: Beethoven. Wir hatten also ein echtes „Beethovenjahr“ – natürlich mit viel neuer Musik und Experimenten, ganz im Sinne des Komponisten.
Was zwei Jahre später passierte, im eigentlichen Beethovenjahr, ist bekannt. Uns gelang aber trotz der Lockdowns ein Wunder. Hitzacker hatte im Sommer 2020 nach unendlichen Kämpfen, die mich notgedrungen tief in die politischen Gefilde katapultierten, ein Indoor-Festival! Den Moment im Konzert mit glücklichen Menschen im Saal und auf der Bühne, als der erste Ton erklang, werde ich niemals vergessen. Zwei Nebeneffekte: Wir platzierten damals die Bühne in der Mitte des Saals und das Publikum um die Künstler herum. Das hat uns so gut gefallen, dass dies nun unsere neue Saalanordnung ist. Und alle von mir neu eingeführten Formate bekamen merkwürdige Anfangszeiten. Das haben wir beibehalten und nirgendwo fangen Konzerte so pünktlich an wie bei uns!
Zurück zum Inhalt: Ich bin glücklich und dankbar, so viele echte künstlerische Momente erlebt zu haben, weil in diesem Festival fast nie Programme von der Stange gespielt werden. Unser Publikum will genau das. Was für ein Luxus für die Festivalleitung!
Was können Sie über die Anfänge des Festivals sagen?
Wille: Hitzacker war vor dem Krieg ein kleines Städtchen an der Elbe mit rund 2.000 Einwohnern und hatte 1946 durch den Zustrom von Flüchtlingen seine Einwohnerzahl fast verdoppelt. Unter ihnen befanden sich Musiker, die mit großem Engagement Haus- und Kirchenkonzerte veranstalteten. Im Sommer des Jahres 1946 fanden dann die ersten Sommerlichen Musiktage statt, mit denen „an der Grenze des freien Deutschland eine Hochburg edelster deutscher Kultur” errichtet werden sollte, wie es damals noch ganz im Hochton deutsch-nationaler Kunstergriffenheit hieß. Als künstlerischer Leiter hat der aus Berlin kommende Cellist Hans Döscher bis zu seinem Tode im Jahre 1971 den Musiktagen ein unverwechselbares Profil gegeben. Hier wird seitdem alte und neue Kammermusik der vielfältigsten Art zu Gehör gebracht.
Was wird aus dem Festival in den nächsten fünf bis zwanzig Jahren?
Wille: Neulich hörte ich den Satz „Ich trotze mit Vision“ von Peter Handke. Der Ausspruch begegnet dem Lauf der Welt in einer Weise, die mir gefällt und die ich auch den Sommerlichen Musiktagen wünsche: Wenn es dem Festival gelingt, mit allerhöchstem Anspruch Kammermusik zu ermöglichen, die in ihrem Geiste und ihrer Substanz zeitlos ist, wenn es dem Festival weiterhin gelingt, neugierig zu sein und Begeisterung für die Sache der Musik zu versprühen, wenn wir, die Festivalmacher, am Puls der Zeit bleiben, ohne uns zu verbiegen und Trends hinterher zu rennen, dann steht etwas über den Problemen, was sehr kostbar für uns Menschen ist. Davon bin ich überzeugt … und trotze so manchen realistischen Gegebenheiten und all den Schwierigkeiten mit dieser Vision!
Zurück in die Gegenwart: Worauf freuen Sie sich dieses Jahr am meisten?
Wille: Eine gemeine Frage. Ich freue mich natürlich auf alles, was da kommt! Jeder Tag wird anders sein. Wenn ich eine Sache herausgreifen müsste, dann wäre es die Aufführung von „Songs for the End of the World“. Das ist ein Auftragswerk meines Kuss Quartetts und Sarah Maria Sun an Sara Glojnarić. Es handelt sich um ein Kopfhörerkonzert, ein soziales Experiment mit einer ganz neuen Technik, die Digitaize heißt. Dabei wird auf unsere Griffbretter eine Membran geklebt, über die dann die Instrumente manipuliert werden können. Das Thema des Konzerts behandelt die Frage, welche Bedeutung Musik in dunklen Zeiten hat, ausgehend vom Untergang der Titanic, bei dem ja ein Oktett musizierte. Wir verwandeln das Konzert teilweise in einen Podcast und beziehen das Publikum mit ein. Darauf bin ich sehr gespannt.