Wer kennt sie nicht, die tragische Geschichte vom buckligen Glöckner Quasimodo und seiner unglücklichen Liebe zur schönen Esmeralda? Schon oft wurde sie verfilmt und als Musical auf die Bühne gebracht. Für den österreichischen Komponisten Franz Schmidt bot der Stoff Anlass zu seiner spätromantischen Oper „Notre Dame“, die 1914 an der Wiener Hofoper uraufgeführt wurde. Trotz seiner prächtigen und ausdrucksstarken Musik ist der Zweiakter kaum außerhalb Wiens aufgeführt worden. Mit der Neuinszenierung setzen die St. Galler Festspiele ihre Tradition der Wiederentdeckung selten gespielter Meisterwerke fort.
Hommage an die Kathedrale in St. Gallen
Als Vorlage diente Victor Hugos 1831 erschienener Roman „Notre-Dame de Paris“ („Der Glöckner von Notre-Dame“). Doch inwiefern hat er für das Ensemble eine Rolle gespielt? Im Interview mit Marius Bolten erzählt die Sopranistin Anna Gabler, die als Esmeralda nach St. Gallen zurückkehrt, von ihren Eindrücken: „Das ist bei uns hier in St. Gallen ganz unterschiedlich. Normalerweise lese ich keine Sekundärliteratur oder Vorlagen, aber in diesem Fall schien es mir eine Herangehensweise zu sein. Der Regisseur hat es anders gemacht und den Roman bewusst nicht gelesen, um unvoreingenommener zu sein. Über das Buch zu gehen ist vielleicht ein Umweg, weil in der Oper vieles anders ist, aber diese Beschäftigung lohnt sich für mich. Im Roman wird beispielsweise deutlicher als im Libretto, dass Esmeralda sich auch bewusst für den Tod entscheidet und das unmoralische Angebot des Archidiaconus ablehnt. Das Buch ist allerdings sehr konstruiert und enthält sehr viele Details. Und viele Klischees: Alle Männer sind Prototypen. Quasimodo ist der einzige „menschliche“ Protagonist, aber das ist natürlich auch ein Klischee. In der Oper, wo Musik hinzukommt und die Strukturen einfacher sein müssen, funktionieren solche Typen sehr gut.“
Das fiktive Porträt der Pariser Kathedrale im Spätmittelalter hat die Bischofskirche zum Nationalsymbol erhoben. Die Oper kann zudem als Hommage an die Kathedrale in St. Gallen gesehen werden, deren stimmungsvoller Klosterhof die spektakuläre Kulisse bildet. Seit 1983 gehört der St. Galler Stiftsbezirk, bestehend aus der Kirche, einer einzigartigen Bibliothek und dem dazugehörigen Klostergebäude, UNESCO-Weltkulturerbe. Das beeindruckende Barockensemble unweit des Bodensees steht dort, wo der Mönch Gallus im Jahr 612 in „der grünen Wildnis zwischen Bodensee und Säntis“ eine kleine Einsiedelei errichtete. Hier befindet man sich außerdem ganz nah an einem zentralen Ort europäischer Musikgeschichte. Denn im Kloster St. Gallen entstand im 10. Jahrhundert das „St. Galler Cantatorium“, die älteste vollständig erhaltene Musikhandschrift mit Neumen, den ersten Notenzeichen.
Ein ein Hauch von Gotik weht durch den barocken Klosterhof
Wer an einem solchen Ort ein Musikfestival veranstaltet, für den ist es eine beinahe schon selbstverständliche Verpflichtung, historische Bezüge herzustellen. Das zeigt sich schon im Bühnenbild, für das sich die St. Galler Festspiele diesmal etwas ganz Großes vorgenommen haben: Für einige Wochen weht ein Hauch von Gotik durch den barocken Klosterhof, denn das zentrale Bühnenelement ist die berühmte West-Rosette von Notre-Dame, die um 1260 entstanden ist und schöpferische Ordnung verkörpern soll. In St. Gallen besteht sie aus vier Tonnen Holz und mehreren Tausend Schrauben.
Der verheerende Brand von Notre-Dame im April 2019 war auch für Carlos Wagner und Rifail Ajdarpasic ein einschneidendes Erlebnis und setzte einen Schaffensprozess in Gang. „Wir haben uns Bilder der Trümmer von Notre-Dame und anderer Kirchenruinen angeschaut und sind auf die Idee für unser Bühnenbild gekommen, die Fensterrose, ein zentrales Element gotischer Kirchen, für unsere Inszenierung zu verwenden, so als wäre sie herausgekracht und auf den Boden vor der St. Galler Kathedrale gestürzt. Auf diese Weise setzen wir ihr ein ebenso großes, aus einem anderen Kontext stammendes Element gegenüber, das aber zahlreiche inhaltliche Querverweise zulässt.“ Siebzehn Meter hoch ragt sie nun in den St. Galler Himmel.
Raffiniertes Rahmenprogramm im Stiftsbezirk
Ergänzt wird die Opernproduktion durch die Uraufführung des Tanzstückes „Echo“ von Kinsun Chan in der Kathedrale. „Mit der Geschichte und dem Inhalt eines solchen Raumes muss ich in meiner Arbeit entweder mitgehen oder einen Kontrast dazu setzen. Mit ,Echo‘ versuchen wir, kontrastierend zu arbeiten und trotzdem einen Moment des Einklangs zu finden“, erklärt der Leiter der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen sein Konzept. Sein Stück setze sich mit dem Klangphänomen des Echos auseinander und greife die Liebesgeschichte von Echo und Narziss aus der griechischen Mythologie auf.
Zudem haben die St. Galler Festspiele ein Konzertprogramm in verschiedenen Räumlichkeiten des Stiftsbezirks unter dem Motto „Kathedralenmusik“ geplant, das sich als zweites Thema dem Komponisten und größten deutschsprachigen Violinvirtuosen des 17. Jahrhunderts widmet: Heinrich Ignaz Franz Biber. Interpretinnen und Interpreten in der Schutzengelkapelle, der Stiftsbibliothek, der Kirche St. Laurenzen und der Kathedrale sind Sopranistin Ieva Prudnikovaitė, Geigerin Leila Schayegh und Organist Sebastian Wienand sowie Ensembles wie unter anderem das estnische Ensemble Vox Clamantis, Les Passions de l’Ame aus Bern und das Sinfonieorchester St.Gallen unter seinem Chefdirigenten Modestas Pitrėnas.