Seine erste Spielzeit als neuer Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters hatte kaum begonnen, da stand für Alain Altinoglu auch schon gleich wieder ein Konzertmarathon mit den Wiener Philharmonikern an, der den französischen Dirigenten auch nach Hamburg in die Elbphilharmonie führte. Seine Energiereserven scheinen unerschöpflich, denn als das Interview nach der Probe beginnt, wirkt Altinoglu alles andere erschöpft.
Herr Altinoglu, seit Kurzem sind Sie Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters. Worauf freuen Sie sich in dieser Position?
Alain Altinoglu: Es ist schwer in Worte zu fassen, wie toll die Chemie zwischen mir und diesem Orchester ist – eigentlich ist es Alchemie (lacht)! Die Musiker und ich haben dasselbe Ziel, und dafür gibt es im Deutschen ein Wort, dass die Franzosen nicht kennen: Spaß! Das Wort joie für Freude trifft es nicht, eher das englische fun – da schwingt viel mehr Aufregung mit. Wir Franzosen sind zwar auch aufgeregt, aber wir haben keinen Spaß (lacht)! Unsere gemeinsame Vision ist auch, ein breit gefächertes Repertoire zu erarbeiten, Musik zu präsentieren, die man vielleicht noch nicht gehört hat. Ein Orchester ist kein Museum, sondern muss ein Teil der Stadtkultur sein! Diejenigen, die seit Jahrzehnten ins Konzert gehen, haben uns aufgebaut, aber wir müssen uns nun um den Nachwuchs, das junge Publikum bemühen!
Welche Strategie haben Sie?
Altinoglu: Wir haben mehrere Konzertreihen für Familien, Kinder und Jugendliche, laden Kinder zu Orchesterproben ein und lassen sie zwischen Musikern auf der Bühne Platz nehmen. Das Orchester geht einmal jährlich auf Tournee durch hessische Schulen. Außerdem veranstalten wir Gesprächskonzerte unter dem Titel „Spotlight“, bei denen wir ein bestimmtes Werk in den Fokus stellen und sich das Publikum aktiv beteiligen kann. Für mich ist die Herausforderung, mich dem jeweiligen Wissensstand anzupassen: Wie erkläre ich einem Vierjährigen etwas über Mozart? Wie begeistere ich Teenager für Debussy?
Was ist für Sie ein guter Orchesterklang?
Altinoglu: Die Menschen verstehen oft den Einfluss des Dirigenten auf sein Orchester nicht gänzlich. Das Publikum nimmt zum Beispiel Tempoveränderungen und Dynamik wahr – doch da hört es bei vielen schon auf. Die Geschulteren hören auch die Stimmungsfarben und die Interpretation. Und diese ändern sich maßgeblich durch den jeweiligen Dirigenten. Das hr-Sinfonieorchester hat einen ganz flexiblen Klang und ist in der Lage, ihn schnell anzupassen.
Orchester entwickeln sich ständig weiter: Wie gehen Sie mit den Themen Gleichstellung und Diversität um?
Altinoglu: Wir sind eines der Orchester, das schon früh an einem gerechten Verhältnis von Musikerinnen und Musikern gearbeitet hat. Auch in der Verwaltung haben wir eine starke Gleichstellungspolitik. Das Gesicht der Orchester verändert sich nur langsam: Die meisten europäischen Klangkörper haben einen überwiegenden Teil weißer Mitglieder, in manchen Fällen ist das Orchester immer noch fast komplett männlich besetzt. Beim hr-Sinfonieorchester liegt der Frauenanteil derzeit bei fast vierzig Prozent, in unserem Orchester sitzen knapp zwanzig Nationalitäten. Ein Ungleichgewicht der Geschlechter sieht man ganz extrem noch immer bei den Dirigenten: Das Dirigententum an sich ist sehr spät entstanden, im 19. Jahrhundert – und natürlich waren es Männer, die dirigierten. Die Autorität von Frauen wurde grundlegend angezweifelt. Das ändert sich aktuell zum Glück. Und es kommen zahlreiche junge gute Dirigentinnen nach. Aber generell finde ich, dass die Qualität stimmen muss – und dann sind Herkunft, Migrationshintergrund oder Geschlecht absolut egal! Man muss erreichen, dass alle bereits in der Kindheit die gleichen Möglichkeiten erhalten, sich intensiv mit Musik auseinanderzusetzen und Musiker zu werden!
Wie hat Ihre eigene Kindheit mit Migrationshintergrund Sie beeinflusst?
Altinoglu: Ich bin in einem kleinen, ja armen Vorort von Paris aufgewachsen in einer Familie mit armenischen Wurzeln. Ich spielte Klavier, aber auch Fußball mit meinen Freunden. Mit dreizehn verlagerte sich mein Interesse mehr hin zur Musik, und das konnten meine Altersgenossen nicht verstehen. Ein Freund fragte mich, warum ich keine Zeit mehr hätte für Fußball, und ich lud ihn ein, mir zu Hause zuzuhören. Ich spielte ihm Chopins erste Ballade vor, und niemals werde ich seinen Gesichtsausdruck vergessen: Er war in Schock, Augen und Mund weit aufgerissen – weil er sowas noch nie gehört hatte. Damals habe ich gelernt, wie viel Kraft Musik besitzt und dass es nicht selbstverständlich ist, dass man sie kennenlernen darf. Und das müssen wir ändern – nur so können wir in der Musiklandschaft mehr Diversität erreichen!
Auch die Ökologie und Umweltverträglichkeit klassischer Musik und insbesondere der Orchestertourneen ist ein aktuell wichtiges Thema.
Altinoglu: Das ist mir in den letzten Monaten auch besonders bewusst geworden. Während des Lockdowns war ich mit meiner Familie in Paris, und wir wurden Zeuge, wie sich die Natur die Stadt ein Stück weit zurückerobert hat. Hasen hoppelten durch die Straßen, man konnte die Vögel plötzlich wieder singen hören. Das lässt mich vieles infrage stellen. Wenn wir unserem Planeten helfen wollen: Können wir große, interkontinentale Orchestertourneen dann überhaupt verantworten? Interessanterweise ruft eine Tour in Japan aber weniger Emissionen hervor als ein Livestream für 100 000 Menschen über das Internet. Allein was wir an CO2 verbrauchen, um Emails zu schreiben, ist unbegreiflich! In Brüssel, wo ich Musikdirektor an der Monnaie bin, haben wir jetzt das Projekt „The Green Opera“ gestartet. Dabei wollen wir versuchen, nachhaltiger zu arbeiten: Wir bauen Bühnenbilder nun zum Beispiel so, dass sie mehrfach in verschiedenen Produktionen verwendet werden können, und nutzen nachhaltigere und weniger umweltschädliche Materialien.
Was lieben Sie besonders und was überhaupt nicht am Dirigentsein?
Altinoglu: Die Antwort ist in beiden Fällen: das Reisen! Einerseits sieht man so viele wunderbare Orte und Säle, lernt viele Orchester kennen. Ich habe das eine Zeitlang auf Social Media dokumentiert, indem ich meine Garderobenräume fotografiert habe. Und auf der anderen Seite kommt man spätnachmittags in einer Stadt an, probt, ruht sich kurz aus, dirigiert, isst, geht schlafen – und reist am nächsten Tag weiter, ohne etwas vom eigentlichen Ort gesehen zu haben. Wenn ich aber doch einmal Zeit habe, nutze ich sie, um auf den Spuren der Komponisten zu wandeln. Als ich an Bergs Oper „Lulu“ gearbeitet habe, besuchte ich in Wien auch seine ehemalige Wohnung. In Weimar bin ich Liszts Wegen gefolgt. Und ist es nicht immer wieder interessant zu sehen, dass die meisten Komponisten, die wir heute als Genies feiern, in ganz kleinem Rahmen lebten – oder zum Beispiel Nachbarn waren wie Schubert und Salieri in Wien?
Sie haben nun zwei feste Engagements in Frankfurt und in Brüssel. Warum ist es Ihnen wichtig, ein musikalisches Zuhause zu haben – oder eben zwei?
Altinoglu: Als Gastdirigent reist man von Orchester zu Orchester und profitiert von der Arbeit, die die Kollegen vor Ort als Chefdirigenten leisten. Man nimmt den von ihnen geformten Orchesterklang und erweitert ihn für eine kurze Zeitspanne. Mit meinen eigenen Klangkörpern habe ich die Möglichkeit, genau diesen Grundstock selbst zu erarbeiten, den beiden Orchestern meine Philosophie und Klangvorstellung mitzugeben. Und es ist schön, zwei so verschiedene Klangkörper zu haben mit ganz unterschiedlichen Aufgabenstellungen. Wenn ich an der Oper mit Sängern arbeite, nehme ich die Kunst des Atmens mit in das Orchester. Jeder muss auf den anderen achten. Aber wir sind im Orchestergraben geschützt. Mit einem Sinfonieorchester steht man inmitten der Aufmerksamkeit, da muss man viel mehr mit Farben und Details arbeiten.
Warum ist für Sie das Orchester das beste Instrument?
Altinoglu: Es hat die meisten Farben, die Kombinationsmöglichkeiten sind schier unendlich. Ich vergleiche ein Orchester gerne mit dem Sternenhimmel: Jeden Abend sieht man am Himmel die Sterne, aber nie dieselben – und genauso ist es mit dem Orchester, seinen Musikern und seinem Programm.
Sehen Sie sich dann als Fixstern?
Altinoglu: Oh nein, ich bin nicht die Sonne (lacht)! Ich bin auch nicht das Zentrum des Universums, das sind wir alle, jeder für sich!
Wenn Sie nicht das Zentrum sind, was macht Sie als Dirigent dann aus?
Altinoglu: Ich möchte Vermittler sein: Zwischen den Musikern, aber auch zwischen den Komponisten und dem Publikum. Ich bin sozusagen ein Medium. Dabei balanciere ich zwischen zwei Aspekten: Den Zuhörern zu vermitteln, was der Komponist wollte, und gleichzeitig meine eigene Meinung zu vertreten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass manche Kollegen das Rad neu erfinden wollen – so bin ich nicht. Wer gibt mir das Recht, mich über das Genie eines Wagner, Bach oder Mozart zu stellen? Ich möchte nicht interpretieren, ich möchte musizieren – im Geiste des Komponisten!
Wie halten Sie die Waage zwischen Emotionalität und klarem Kopf?
Altinoglu: Man darf nicht zu emotional sein als Dirigent. Dann verliert man die Kontrolle. Ich muss dem Orchester helfen, ein großes Ganzes zu werden – und das kann man nicht mit dem Kopf in den Wolken. Ich habe auch nicht die Kraft und Zeit, mir Gedanken über meine Leistung zu machen, mich zu fragen, ob das Konzert gestern gut war oder nicht. Es zählen allein der Moment und der Fokus. Und der muss immer hundert Prozent sein.
Das klingt sehr analytisch. Wirken Konzerterlebnisse dennoch auch als Gefühl in Ihnen nach?
Altinoglu: Manche Eindrücke bleiben sehr lange im Kopf, manche sogar für immer. Manche Konzerte haben mich so beeindruckt, dass ich sie auch heute noch nachfühlen kann. Mein erster „Lohengrin“ in Bayreuth ist so ein Beispiel. Oder das erste Mal, dass ich „Le Sacre du printemps“ dirigiert habe. Noch immer spüre ich die Energie von damals! Ich bin da sehr feinfühlig. Das geht mir im Übrigen genauso mit Essen: Ich kann den Geschmack eines richtig guten Gerichts immer und immer wieder aufrufen und genießen.
Essen spielt wohl eine große Rolle in Ihrem Leben.
Altinoglu: Unbedingt – ich koche viel und gerne! Meistens die armenische Küche meiner Kindheit. Ich bin oft unterwegs und kann mittlerweile in jeder Stadt vorhersagen, wie das Club-Sandwich schmeckt. Deshalb buche ich nach Möglichkeit keine Hotels mehr, sondern Apartments, in denen ich mich selbst versorgen kann. Ich genieße es zu kochen und zu bestimmen, was ich verarbeite. Und ich liebe, dass ich improvisieren kann – wie in der Musik: Am Anfang stehen die Noten, das Rezept; und wenn man das Rezept einmal korrekt nachgekocht hat, fängt man an, seine eigenen Geschmacksvorstellungen zu integrieren. Am Ende hat man dann etwas, das einem selbst gehört und vom Herzen kommt.