Alain Altinoglu möchte nicht nur eingefleischte Klassikfans begeistern. Dafür geht der französische Dirigent gerne auch unkonventionelle Wege. Nicht weniger unkonventionell ist übrigens sein Werdegang …
Monsieur Altinoglu, stimmt es, dass Sie vor Ihrer Dirigentenlaufbahn an der Oper souffliert haben?
Ja, richtig. Ich habe in der Pariser Opéra Bastille in verschiedenen Funktionen gearbeitet, zum Beispiel als Korrepetitor und eben auch als Souffleur. Oder ich war für die Übertitelung der Opern zuständig. Für mich war es eine großartige Chance, all diese verschiedenen Positionen einzunehmen, so sieht man das Opernhaus aus Blickwinkeln, die man als Dirigent nicht hat.
Mussten Sie denn oft bei Texthängern helfen?
Ja, ein Sänger hat mir nach einer Vorstellung sogar mal eine Flasche Bordeaux geschenkt, als Dankeschön. Das war Ben Heppner. Der hat als Walther in den „Meistersingern” immer wieder auf meine Lippen geschaut, am Ende war er sehr glücklich, dass alles geklappt hat.
Anders als das Dirigentenpult bietet der Souffleurkasten wenig Platz …
In der Tat, der Job ist nichts für Klaustrophobiker. Manche Orchestergräben sind auch richtig gefährlich, in Bayreuth zum Beispiel, wo es tief runtergeht. Dort kommt man über eine Leiter in den Souffleurkasten – die wird zu Beginn allerdings weggeräumt. Das heißt, der Souffleur kommt während der Vorstellung gar nicht raus, er würde sonst direkt auf die Klarinetten fallen.
Sie unterrichten heute auch am Pariser Konservatorium. Empfehlen Sie Ihren Studenten die verschiedenen Positionen im Opernhaus?
Meine Studenten sind sehr unterschiedliche Menschen, einige sind Komponisten, wissen viel über Theorie und Harmonie, kennen aber nicht die Perspektive aus dem Orchestergraben. Andere sind großartige Instrumentalisten, benehmen sich auf dem Podium aber wie Löwen. Man muss sie verschiedenartig unterrichten – und ich selbst lerne dabei auch dazu: was bei wem funktioniert oder warum etwas nicht funktioniert.
Der Dirigent Fabio Luisi beklagte einmal im concerti-Gespräch, dass mancher Nachwuchs-Dirigent schon mit 18 oder 19 Jahren denke, er sei fertig. Erleben Sie das auch?
So eine Art von Arroganz gibt es in jedem Berufsfeld. Ja, ich habe Studenten gehabt, die mit 17 oder 18 dachten, dass sie bereits am Ziel angekommen sind. Denen musste ich klar machen, dass es womöglich noch fünfzig Jahre dauert. Andere Schüler wiederum sind sehr bescheiden. Ich denke, es ist eine Frage der Balance. Dirigieren ist ja in der Klassik der einfachste und schwierigste Job zugleich.
Wie meinen Sie das?
Heute haben die Orchester ein so hohes Niveau, dass sie selbst unter einem schlechten Dirigenten gut spielen können. Das war vor hundert Jahren noch viel schwieriger. Die meisten Ensembles hatten nicht die notwendige Qualität, man brauchte am Pult auf jeden Fall jemanden, der seinen Job gut machte. Ich habe mal eine Probenaufnahme von Serge Koussevitzky gehört: Es war ein Stück von Strawinsky, und als jemand in den Bläsern falsch spielte, sagte er: „Die Stelle ist für ein drittes Fagott natürlich sehr schwer.“ So etwas wird heute kein Dirigent mehr sagen, denn jetzt wird auch das dritte Fagott ganz sicher von einem der besten Musiker gespielt, den du finden kannst.
Also einerseits hat man es leicht, weil das Orchester auf hohem Niveau spielt …
… und andererseits ist es natürlich nicht genug, vor einem Orchester nur die Hände zu bewegen. Um das beste Ergebnis zu erreichen, brauchst du Reife, benötigst du viel Zeit deines Lebens. Du musst zwischen den Zeilen lesen können. Du bist auch nie fertig, jeden Tag musst du arbeiten und versuchen zu verstehen, warum etwas nicht so lief, wie du wolltest. Wenn heute jemand schon mit 19 fertiger Dirigent sein will, liegt das sicher auch an der Zeit, in der wir leben. Viele Menschen wollen in erster Linie berühmt werden. Das ist im Fall der Klassik aber gar nicht förderlich.
Wollten Sie berühmt werden?
Nein, nie. Meine Motivation war immer die Musik. Wenn dir das Berühmtsein hilft, noch bessere Musik zu kreieren, dann lehne ich es nicht ab. Aber als Dirigent ist meine erste Aufgabe, ein guter Vermittler zwischen dem Komponisten und dem Publikum zu sein.
Ihr Debüt an der Metropolitan Opera New York gaben Sie mit dreißig Jahren. Fühlten Sie sich da schon reif genug?
Das hängt für mich mehr vom Stück als vom Ort ab. Bei meinem Debüt habe ich „Carmen” dirigiert, ich bin in Frankreich aufgewachsen, ich hatte Lehrer, die selbst bei Schülern von Bizet gelernt haben. Und ich hatte in der Pariser Oper als Korrepetitor sehr viel mit dieser Musik gearbeitet. Was allerdings gefährlich war: Ich hatte die Oper zuvor noch nie dirigiert und ich hatte auch keine Probe mit dem Orchester.
Wie bitte?
Ja. Ich hatte mit dem Orchester noch nicht gearbeitet und „Carmen” noch nie dirigiert! Das ist, wie wenn man ins Wasser fällt: Entweder du schwimmst oder du sinkst.
Das klingt abenteuerlich.
Ja, aber so etwas ist mit dem Orchester der Met natürlich viel einfacher, weil deren Niveau so hoch ist. Man fühlt sich sicherer, wenn man eine Schwäche hätte, kann das Orchester dir helfen. Die Musiker sind sehr flexibel, ich hatte gleich das Gefühl, eine starke Verbindung zu den Musikern zu haben. Insofern war dieses Debüt eine wunderbare Erfahrung für mich.
Auf welches Repertoire konzentrieren Sie sich momentan?
Das wechselt natürlich, da ich gerne soviel Unterschiedliches wie möglich machen möchte. Aber klar, man muss Prioritäten setzen. Im Moment dirigiere ich weniger Belcanto-Opern, mein Fokus liegt mehr auf dem großen italienischen Repertoire, aber auch auf Wagner und Strauss – und natürlich Mozart!
Und was macht der Jazz?
Ach, das ist nur ein Hobby von mir.
Im Internet findet sich ein Video, in dem Sie am Klavier wunderbar über „Carmen” und Songs von Gershwin improvisieren.
Ja, das war sozusagen ein Mix aus beiden Genres. So etwas mache ich manchmal zum Spaß, bei einer Jam-Session mit Freunden. Oder ich dirigiere „Rhapsody in Blue” vom Klavier aus. Vor drei Jahren, als ich in Zürich den „Fliegenden Holländer” dirigierte, hatte ich kurz darauf ein Konzert mit dem Tonhalle-Orchester. Dort habe ich als Zugabe über Wagner improvisiert. Ich mag es, solche Verbindungen herzustellen, auch zwischen Welten, die weit auseinanderliegen.
Einen Ihrer traurigsten Auftritte hatten Sie wenige Tage nach dem Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo”, Anfang 2015 …
Am Tag des Attentats hatten wir in der Bastille geprobt, also etwa 400 Meter von der Redaktion entfernt. Als wir Pause machten und rausgingen, sahen wir überall Polizei. Und als wir erfuhren, was passiert war, war das ein großer Schock.
Sie haben der Opfer damals mit Verdis „Gefangenenchor” gedacht.
Richtig, diesen Vorschlag hatte der Intendant Stéphane Lissner gemacht.
Hat klassische Musik in so einem Moment auch eine politische Funktion?
Natürlich gibt es bei Verdi politische Implikationen. Aber ich sehe viel mehr die soziale Funktion von Musik. Die Menschen erleben eine wirtschaftliche Krise, wissen nicht, was sie tun sollen, es fehlt ihnen an Spiritualität. Da kann die Musik ihnen helfen. In Brüssel versuche ich, so viel Leute wie möglich in meine Konzerte zu bringen, nicht nur die reichen, sondern auch Menschen aus Bezirken wie Molenbeek. Manchmal lasse ich sie direkt im Orchester Platz nehmen. Wenn ich dann die Faszination in ihren Augen sehe – das ist etwas Einzigartiges für sie! Und wer weiß – vielleicht sitzt jemand von ihnen eines Tages selbst als Musiker im Orchester.
Alain Altinoglu improvisiert über „Carmen” und Songs von Gershwin: