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Interview Alessandro de Marchi

„Die Continuogruppe ist meine Viererkette“

Fußball und Musik? Für Alessandro de Marchi hängen diese beiden Welten enger zusammen, als mancher denken mag …

vonChristian Schmidt,

Es gibt zwei italienische Prominente des Namens Alessandro de Marchi: einen Radrennfahrer und einen Dirigenten. Letzterer lebt seit einem Vierteljahrhundert in Deutschland und machte sich durch europaweit gefeierte Auftritte einen Namen als ehrgeiziger Forscher für die historische Aufführungspraxis Alter Musik. Und doch offenbart er als einstiger Rockfan und Jazzmusiker auch im Interview eine lebensbejahende Offenheit.

Italien ging es im EURO-Sommer 2016 alles andere als gut – sind Sie ein Fußballfan?

Absolut gar nicht. Aber meine deutschen Nachbarn haben mich so geärgert am Tag des Spiels, dass ich das Viertelfinale dann doch gesehen habe. Danach ging es mir nicht besser, aber furchtbar traurig war ich nicht: Die Leidenschaft für Fußball habe ich noch nicht entdeckt. Schade eigentlich, denn das Thema verbindet.

Gibt es Analogien zwischen einer Mannschaft und einem Barockensemble?

Absolut! Kollaboration ist ganz zentral. Auch die Dirigentenfigur hat sich zum Primus inter Pares gewandelt, der Diktator gehört zu einer anderen Zeit. Heutzutage gibt es in der Musik viel eher den Mannschaftsgedanken. Man spielt ja als Trainer wie als Dirigent nicht selbst mit, gibt aber die eigenen Vorstellungen vom Spiel weiter.

Das heißt, die Continuogruppe ist Ihre Viererkette.

Genau! Wenn die sehr groß ist, muss man sich zwischen verschiedenen Konstellationen der „Manndeckung“ im Ensemble entscheiden.

Was macht für Sie den besonderen Reiz der Alten Musik aus?

Wahrscheinlich die Tatsache, dass in den Noten nur 20 Prozent von dem stehen, was man machen muss – den Rest hat man durch Wissen, Fantasie und Improvisation auszugleichen. Zum Beispiel gibt es in einer Partitur des 17. Jahrhunderts nicht mal alle Töne, die zu spielen sind.

Wie hoch ist der Anteil zwischen Forschung und Interpretation?

Das kommt sehr aufs Stück an. Wir wissen, dass die musikalische Praxis sehr komplex war. Das heißt auch: Je mehr Quellen man erforscht, desto mehr zweifelt man auch – die eine Art zu spielen gibt es nicht. Wenn Sie etwa ein Stück von Monteverdi vor sich haben, müssen Sie zuerst die Partitur rekonstruieren, denn es gibt nur ein Notensystem für die Basslinie und eines für den Gesang. Zu seiner Zeit hatte das Orchester aber bis zu 30 Musiker, die Continuospieler hatten nur eine Ziffer, haben aber viel mehr gemacht; die anderen wiederum waren unglaubliche Improvisationskünstler, und alle zusammen haben auch mehrere Monate lang probieren können. Bis ins 18. Jahrhundert hinein spielten sie das alles auswendig, das muss man sich mal vorstellen, wie gut sie die Musik gekannt haben!

Es kann also gar keine Authentizität geben.

Nein. Man kann sich aber durch viele Recherchen die Freiheit erarbeiten, manche Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen.

Sie arbeiten europaweit auch mit Ensembles zusammen, die auf modernen Instrumenten spielen. Wie offen sind diese für solche Entscheidungen?

Ich habe noch nie eine schlechte Erfahrung mit modernen Orchestern gemacht. Es gibt im Moment ein ganz großes Interesse für die historisch informierte Aufführungspraxis, und da sind Musiker wie die Tiere: Sie riechen es, ob das gegenseitig funktioniert. Heutzutage sind es eher die Spezialisten, die Schwierigkeiten machen, weil sie glauben, alles besser zu wissen. Da sind Musiker mit modernem Instrumentarium häufig offener: Wenn ich etwa mit der Staatskapelle Dresden arbeite, die von Generation zu Generation ihre besonderen Klangeigenschaften weitergibt, mache ich mir in den Proben Notizen, wie sie was machen, weil es so interessant ist. In ihrer über 460 Jahre langen Tradition hat sich zum Beispiel erhalten, dass die Streicher von der Vokalmusik her denken.

Heutzutage hat man nur wenige Proben, und die Musiker können nicht aus dem Stand improvisieren. Wie kommen Sie da mit Ihrem dauernden Wissensvorsprung zurecht?

Ich muss meine Noten sehr sorgfältig vorbereiten und entscheiden, wie viel ich vorgebe und was ich den Musikern überlasse. Natürlich sollte man dafür vorher wissen, wer spielt. Man darf nicht erwarten, dass die Musiker heute zu dritt über den Kontrapunkt improvisieren können – das ist ein musikalisches Sudoku, das keiner mehr beherrscht. Freilich gibt es Jazzer oder Organisten, die für sich improvisieren können, aber eben nicht zugleich mit anderen.

Alles, was kontrapunktisch ist, schreibe ich also einfach auf. Dann kann ich es den Musikern überlassen, auf diesem festgeschriebenen Level frei zu spielen. Bei den Sängern ist es auch sehr abhängig von der Musikerpersönlichkeit: Sie kommen zum Teil mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die dann nicht unbedingt harmonieren, also muss man dann vor und bei den Proben Vorschläge machen und Rahmen festlegen, sonst geht das nicht zusammen.

Klingt nach viel Arbeit.

Wenn man bedenkt, dass ein Barockdirigent weniger verdient als ein klassischer, ist das nicht gerecht, ja. Man arbeitet Monate im Voraus für ein Projekt.

Bei Tschaikowsky steht eben sogar jede einzelne Crescendo-Gabel in den Noten.

Aber auch da gibt es theoretisch noch viel zu tun für die Praxis. Bei Mahler ist ja jedes Rubato und jede Balance zwischen den Instrumentengruppen notiert, weil er so ein erfahrener Dirigent war. Bei uns muss man das alles aufschreiben.

Inwiefern ändern sich Ihre Ansichten zu einem Werk über die Jahre hinweg?

Man wird natürlich älter, lernt viel und reift. Ich kenne so ziemlich alle Quellen zur Aufführungspraxis, und solange sich keine neuen auftun, ist der Änderungsbedarf begrenzt. Es sind öfter die Kontexte, die sich ändern, die Programme, die Dramaturgie oder die Inszenierung bei einer Oper, da kann man sich dann auch mal anders entscheiden. Es ist alles möglich – Hauptsache, der stilistische Rahmen wird entschieden und ist dann auch stimmig.

Wie gut kommen Sie mit dem deutschen Regietheater zurecht?

Wenn ein Produkt gut ist, bin ich offen für vieles – doch manchmal muss man bei jungen Regisseuren auch mal nein sagen. Bestenfalls bilden Musik und Szene eine Einheit. So wie auch die Barockmusik im Moment eine Renaissance erlebt, gibt es übrigens auch bei der Opernregie eine interessante neue Tendenz: Man möchte mehr und mehr auch mal was Schönes sehen. In der tausendsten Traviata-Inszenierung kann man ja gern alles Mögliche neu deuten – bei Ausgrabungen unbekannter Opern hat das Publikum das Recht, zumindest einmal zu verstehen, worum es geht.

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