Warum haben Sie und Ihr Mann die Matthäus-Passion mit Concentus Musicus Wien nach dreißig Jahren ein zweites Mal eingespielt?
Alice Harnoncourt: Musikalisch gesehen ist in der Zwischenzeit sehr viel passiert, und mein Mann hat viele neue Wege entdeckt. Als dann die Anfrage vom Plattenlabel kam, haben wir gerne zugesagt.
Die Unterschiede fallen ins Ohr. Zum Beispiel wurde das Knaben-Männer-Ensemble der Aufnahme aus dem Jahr 1970 für das Album im Jahr 2001 durch einen gemischten Chor ersetzt.
Harnoncourt: Unsere frühen Bach-Aufnahmen wurden fast immer mit den Wiener Sängerknaben besetzt. Das war damals eine echte Neuerung. Inzwischen ist die Situation mit den Knaben aber nicht mehr so einfach. Bei den Bach-Kantaten wurde uns gesagt, das Einstudieren mache sehr viel Arbeit und der Chor könne das Repertoire nicht weiterverwerten. Deshalb haben wir später mit Erwachsenenchören wie dem Arnold Schoenberg Chor zusammen musiziert.
So auch bei der zweiten Aufnahme der Matthäus-Passion in der Jesuitenkirche …
Harnoncourt: Wir wollten uns von einem schönen Raum inspirieren lassen, das war uns sehr wichtig. In der Jesuitenkirche in Wien konnten wir den Chor teilen und die Sänger mit großem Abstand voneinander aufstellen. Es war nur schade, dass wir dort kein Konzert gegeben haben.
Könnte man sagen, dass die jahrzehntelange Erfahrung Nikolaus Harnoncourts als Operndirigent mit in diese Aufnahme eingeflossen ist?
Harnoncourt: Natürlich. Das hat seinen Stil sehr geprägt. Mein Mann hatte immer eine große Affinität zu dramatischer Musik. Ich denke, das übliche Konzertrepertoire hätte ihn auf Dauer nicht erfüllt.
Man spürt in dieser Aufnahme das subjektive Leid der Figuren, die Menschen mit ihren Gefühlen. Es ist keine Interpretation abstrakter religiöser Gedanken …
Harnoncourt: Genau, eine südliche Leidenschaft kommt da hinein, die sicherlich von der Oper inspiriert ist.
Sie haben über 60 Jahre mit Ihrem Mann zusammen musiziert und mit ihm 1953 den Concentus Musicus Wien gegründet. Wie stark waren Sie als Konzertmeisterin und später als Zweite am ersten Pult in die interpretatorischen Fragen des Musizierens eingebunden?
Harnoncourt: Sehr stark. Ich habe das komplette Stimmenmaterial eingerichtet und für jeden Musiker die Striche, Atemzeichen und andere praktische Anmerkungen eingefügt, damit wir effektiver proben konnten. Das habe ich natürlich alles mit meinem Mann besprochen. Wir befanden uns im ständigen Austausch.
Kam es da auch mal zu Meinungsverschiedenheiten?
Harnoncourt: Nur sehr selten, und das war ihm dann immer besonders unangenehm. Er wollte in Einvernehmen mit mir sein, deshalb habe ich mich sehr zurückgehalten. Meine musikalische Bildung wurde ja durch ihn geprägt. Ich war vorher eine ganz normale Geigerin. Traditionell ausgebildet, wie das in Wien üblich ist, hatte ich überhaupt keine Ahnung von Alter Musik. Alles, was ich danach musikalisch gemacht habe, war inspiriert von ihm. Ich hatte ein wahnsinniges Glück.
Stimmt es, dass Ihr Mann Ihnen gut zureden musste, um den Posten der Ersten Konzertmeisterin zu übernehmen. Eine Frau am ersten Pult war damals ja sehr unüblich …
Harnoncourt: Ich dachte, dass ich nur Ehefrau sein dürfte … Weil ich die beste Geigerin in unserer kleinen Gruppe war, war ich lange Zeit tatsächlich die einzige Frau, die an erster Stelle musizierte, und das ist sehr bemerkt worden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie bei unserer ersten Amerika-Tournee die jungen Frauen auf mich zukamen und sagten, es sei wunderbar, dass ich das mache. Später kamen noch weitere Musikerinnen dazu. Da waren die männlichen Kollegen etwas bestürzt, und auch deren Frauen waren nicht glücklich, dass ich so eine Ausnahmestellung hatte.
Sie waren neidisch auf Sie?
Harnoncourt: Natürlich. Ich hatte ja das wahnsinnige Glück, alles machen zu können. Ich hatte eine Familie mit vier Kindern und konnte trotzdem meinen Beruf ausüben.
„Wir sind eine Entdeckergemeinschaft“ heißt das Buch über die Anfänge des Concentus Musicus, das Sie 2018 herausgegeben haben. Was waren die größten Entdeckungen, die Sie im Rahmen der Ensemblearbeit gemacht haben?
Harnoncourt: Die Musik des Barock bis in die Klassik hinein ist eine sprechende Musik, und diese Sprache muss man lernen. In meiner Ausbildung habe ich nie irgendetwas darüber gehört, dass man artikulieren und eine Atempause machen muss und dass Musik uns etwas sagen möchte. Die Noten haben ab einem sehr frühen Zeitpunkt zwar genauso ausgeschaut wie heutzutage, nur sind sie anders gelesen worden. Wenn man sich damit auseinandersetzt, erweitert man seine musikalische Palette und entdeckt einen riesigen Reichtum. Man versteht, dass der Komponist einen nicht nur handwerklich beschäftigen, sondern etwas ausdrücken will.
Sie und Ihr Mann gelten als Pioniere der sogenannten „historisch informierten Aufführungspraxis“. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?
Harnoncourt: Ich finde ihn abstoßend. Jeder Musikstudent erlernt ein Handwerk und erfährt in den Nebenfächern alles Wichtige über die Musikgeschichte. Wenn Sie eine Hochschule besuchen, sind Sie nachher historisch informiert. Das braucht niemand extra erwähnen. Sie sagen ja auch nicht: Ich spreche nach der Grammatik.
Es geht also nicht darum, herauszufinden, wie Musik vor dreihundert Jahren geklungen hat?
Harnoncourt: Das ist interessant zu wissen, aber nur in akademischer Hinsicht.
Mit dem Tod Ihres Mannes 2016 haben Sie das öffentliche Musizieren aufgegeben. Womit beschäftigen Sie sich seither?
Harnoncourt: Das war wirklich eine große Zäsur. Ich habe nicht nur meinen Mann, sondern auch meinen Beruf verloren. Seither beschäftige ich mich mit dem, was er hinterlassen hat. Das ist eine große Umstellung.
Holen Sie trotzdem noch manchmal Ihre Geige hervor?
Harnoncourt: Ich muss ehrlich sagen: Nur noch ganz selten. Ich spiele nicht mehr gut genug, als dass es mir wirklich Freude bereiten würde. Man muss einfach einiges hinter sich lassen.
Gibt es für Sie persönlich eine Lieblingsaufnahme mit dem Concentus Musicus Wien?
Harnoncourt: Kann ich nicht sagen. Ich höre mir immer wieder verschiedene Aufnahmen an, was mir eine Zeit lang nicht möglich war, weil es mich emotional so durchgeschüttelt hat.
Sehen Sie hier die Probe zu Bachs Matthäus-Passion mit Nikolaus Harnoncourt aus 2001:
Hier anhören: