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Interview Alice Sara Ott

Dirigieren mit der Zahnbürste

Die Wahl-Berlinerin Alice Sara Ott über vergessene Komponistinnen, verstorbene Idole und Whisky

vonMario-Felix Vogt,

Frau Ott, Sie treten weltweit auf und kennen die wichtigen Konzerthäuser. Gibt es einen Saal, den Sie aufgrund seiner Akustik oder Atmosphäre besonders schätzen?

Alice Sara Ott: Hm, das ist schwierig, es gibt so viele schöne Säle. Ich müsste auch unterscheiden, in welchen die Akustik besonders gut für Klavierkonzerte mit Orchester ist und welche sich eher für Solo-Recitals eignen. Recitals spiele ich sehr gerne in der Opera City Hall in Tokyo. Der Saal dort ist wie eine Pyramide geformt und die Akustik einfach einmalig. Im Zusammenspiel mit Orchester gefällt mir die neue Pariser Philharmonie sehr gut. Zwar passen dort wohl etwa 2.400 Zuhörer rein, aber man empfindet den Saal nicht als so groß. Die Atmosphäre ist sehr intim, das Publikum sehr nah. Trotz der Größe des Saals entsteht ein kammermusikalisches Gefühl, was ich sehr mag.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten zwei historische Musikergrößen auswählen, um mit diesen ein Beethoven-Klaviertrio einzustudieren. Wen würden Sie nehmen?

Ott: Sollen es bereits verstorbene Künstler sein?

Ja.

Ott: Also, ich mag den russischen Cellisten Daniil Shafran unglaublich gerne. Hm, wen könnte man als Gegenpol an die Geige setzen? (überlegt) Ich fände Paganini interessant. Ich glaube, das wäre ein besonderes Erlebnis. Ich weiß allerdings nicht, ob diese Kombination die beste ist. Oft ist es ja so, dass man sich bestimmte Musikerkonstellationen gar nicht vorstellen kann. Und dann passiert etwas Unglaubliches, und die Leute harmonieren überraschend gut auf der Bühne miteinander.

Und mit welchem historischen Dirigenten hätten Sie gerne mal ein Mozart-Klavierkonzert aufgeführt?

Ott: Das ist schwierig. (überlegt lange) Ich bin ein Fan von Carlos Kleiber. Die Art, wie er musiziert, ergibt einfach immer einen Sinn.

Welchen Komponisten hätten Sie gerne mal persönlich kennengelernt?

Ott: Es mag etwas klischeehaft klingen, aber es ist tatsächlich Liszt. Als Teenager hatte ich eine Phase, in der ich ihn regelrecht angebetet habe. Und das nicht nur als Komponisten, sondern auch als Menschen und als Mann.

Ein Besuch in Bayreuth hat Ihre Illusionen in Hinsicht auf Liszt allerdings zerstört …

Ott: Ja. Mit achtzehn, neunzehn Jahren habe ich das Richard-Wagner-Museum „Haus Wahnfried“ in Bayreuth besichtigt und hatte dabei auch die Gelegenheit, auf dem Flügel zu spielen, auf dem der alte Liszt konzertiert hatte. Und direkt nebenan befindet sich das Sterbehaus von Liszt, welches ich ebenfalls besucht habe. Dort habe ich ein Paar Schuhe von ihm in der Vitrine stehen und zu meinem Schrecken musste ich feststellen, dass diese kleiner waren als meine eigenen Schuhe. In dem Moment zerplatzte meine ganze Traumblase. All das, was ich mir ausgemalt hatte, war mit einem Mal zerstört. Um jedoch herauszufinden, was von meinen Vorstellungen vielleicht doch der Realität entsprochen hat, hätte ich ihn gerne getroffen. Und Mozart hätte ich gerne kennengelernt.

Wieso gerade Mozart?

Ott: Weil ich glaube, dass der Mann einfach einen tollen Humor gehabt hat und vieles mit einer gewissen Gelassenheit und Selbstironie gesehen hat. Ich schätze es sehr, wenn ein Mensch nicht immer die Hauptrolle in einer Tragödie spielen muss. Vor allem wir Musiker sind dazu veranlagt. Auf der Bühne müssen wir das auch, aber wir sollten auch wieder auf den Boden der Realität zurückkommen können.

Welcher Komponist wird Ihrer Meinung nach völlig unterschätzt?

Ott: Oh, da gibt es viele! Insbesondere Komponistinnen. Ethel Smyth und Amy Beach zum Beispiel. Beide haben tolle Musik geschrieben, jedoch zu Lebzeiten sehr viel Contra bekommen. Smyth war in die englische Frauenbewegung involviert und hat sogar die Hymne für diese komponiert. Nach Protestaktionen gegen die Verweigerung des Frauenwahlrechts wurde die Komponistin zusammen mit zahlreichen weiteren Frauenrechtlerinnen inhaftiert. Im Gefängnis haben diese Frauen einen Chor gebildet und gemeinsam ihre Hymne gesungen, dabei hat Smyth vom Fenster aus mit einer Zahnbürste dirigiert. Brahms bekam einmal eines ihrer Werke in seine Hände und war begeistert – bis er herausfand, dass es eine Frau geschrieben hatte. Sexismus war damals an der Tagesordnung.

Gibt es auch unter den Männern noch jemand, der nicht ausreichend Anerkennung erfährt?

Ott: Ja, das alte Thema: Liszt. Gerade in Deutschland denken viele Zuhörer, dass Werke wie etwa die zwölf „Transzendentalen Etüden“ nur inhaltslose Tastenakrobatik sind. Deshalb habe ich mich immer dazu herausgefordert gefühlt, dem Publikum zu zeigen, dass viel mehr in diesen Kompositionen steckt.

Im Zusammenhang mit virtuosen Pianisten spricht man oft von technischer Perfektion. Was bedeutet für sie der Begriff Technik?

Ott: Ich glaube, dass das Wort Technik heutzutage meistens falsch benutzt wird. Viele Leute verstehen darunter, die richtigen Töne so schnell und laut wie möglich zu spielen. Für mich bedeutet Technik hingegen, genau den Klang, das Piano oder Pianissimo aus dem Instrument herauszuholen, das man sich vorstellt.

Gibt es auch einen Komponisten, der Ihrer Meinung nach überschätzt wird?

Ott: Das möchte ich mir nicht anmaßen, hier jemanden zu nennen. Das wäre in meinen Augen sehr arrogant.

Haben Sie sich selbst schon mal mit Jazz beschäftigt?

Ott: Leider bin ich auf diesem Gebiet total talentfrei. Aber ich mag Jazz unheimlich gerne. In meiner Freizeit höre ich wenig Klassik, weil ich dabei einfach nicht abschalten kann. Deshalb läuft bei mir abends meistens Musik von Art Tatum, Oscar Peterson und auch Blues. Ich bin ja auch ein Whiskyfan, und Jazz und Whisky lassen sich sehr gut miteinander kombinieren …

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