Wer eine CD von Andreas Staier in der Hand hält, erkennt schon am Booklet die Sorgfalt, mit der sich der 60-jährige Pianist der historisch informierten Aufführungspraxis widmet. Stets ist detailliert aufgeführt, aus welchem Jahr, welcher Sammlung und von welchem Instrumentenbauer der verwendete Flügel stammt. Dass sein Forschungs-Eifer nach drei Jahrzehnten Solistenkarriere keinen Deut nachgelassen hat, offenbart sich auch beim concerti-Gespräch während seines Sommerurlaubs.
Herr Staier, wenn Sie Urlaub machen, nehmen Sie dann auch eine Auszeit vom Klavier?
Ich bin in einem kleinen Haus am Meer und habe das Glück, dass hier auch ein Klavier steht. Wenn es regnet, kann ich dann ab und zu ein wenig klimpern.
Wie lange würden Sie es ohne das Instrument aushalten?
Länger als zwei Wochen ist schwierig, denn danach ist der Prozess des Wieder-Reinkommens nicht mehr besonders angenehm: Am ersten Tag findet man sich noch unglaublich toll, aber wenn dann die Ohren wieder spitzer werden, ist es am zweiten und dritten Tag nicht mehr so schön, weil man wieder kritischer wird und vom Dilettanten zum Professionellen mutiert.
Mögen Sie hier im Urlaub auch auf das vorhandene Klavier zurückgreifen, zu Ihren Konzerten reisen Sie oft mit eigenem Hammerflügel – sofern Sie nicht an der Grenze gestoppt werden …
Nach Belgien, Frankreich oder Holland ist es kein Problem, das ist ja ein Zollraum. Doch sobald ich die EU verlasse, also auch wenn ich in die Schweiz fahre, greift die internationale Gesetzgebung zum Schutz der Elefanten. Unter vernünftigen Umständen bekommt man da ein Instrument mit Elfenbeintasten nicht über die Grenze.
Auch nicht, wenn Sie belegen, dass Sie Musiker sind?
Das könnte ich tun, aber die Bürokratie, die dann in Gang kommt, ist unheimlich teuer und zeitaufwändig.
Ihr Instrument – eine Kopie eines Hammerflügels von 1827 – wurde 1996 gebaut …
… und das verwendete Elfenbein ist sogar älter als das betreffende Gesetz. Doch das hilft leider nichts.
Was wäre die Alternative?
Man kann Elfenbein heutzutage durch Knochen ersetzen – aber finden Sie mal an der Grenze einen Fachmann, der den Unterschied zwischen Elfenbein und Knochen sieht! Zum Glück kenne ich Instrumentenbauer in den verschiedenen Gegenden, die mir dann helfen, ein anderes Instrument zu organisieren – oder ich biete eben an, auf dem modernen Flügel zu spielen.
Wie viel Idealismus ist dabei, wenn man aus Gründen der Interpretation solch logistischen Aufwand betreibt?
Zumindest so viel, dass man bereit ist, auf einen Teil seines Honorars zu verzichten, den dann die Stimmer und Transporteure bekommen. Es macht mir aber einfach Spaß, da ist die Frage des Honorars zweitrangig.
Aber was hat der Hörer davon, wenn Sie Beethoven auf dem Hammerklavier und nicht auf dem modernen Flügel aufführen?
Es ist einfach der Klang. Kein Instrument hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre so stark verändert wie das Klavier: Es hat auf die Vergrößerung der Konzertsäle reagiert, der Tastenumfang hat sich kontinuierlich vergrößert – ein Instrument aus dem späten 18. Jahrhundert unterscheidet sich vom modernen Flügel ganz entscheidend, und die Komponisten haben auf die Instrumente hin komponiert und disponiert. Der Pedalgebrauch etwa ist völlig anders, dadurch dass die Saiten des modernen Flügels viel dicker sind und den Klang länger halten. Würde man auf dem modernen Flügel bestimmte Pedalvorschriften von Beethoven umsetzen, entstünde ein schreckliches Kuddelmuddel.
Aber wie viel davon bemerkt der Hörer?
Der merkt den Unterschied im ersten Bruchteil einer Sekunde – wenn er die hörende Neugier besitzt, bestimmte Klänge und alles, was sich daraus ergibt, auf sich wirken zu lassen. Für mich als Musiker geht es auch darum, diese Neugier zu wecken. Man braucht dazu natürlich einen geeigneten Ort: Sitze ich mit einem kleinen Clavichord in einem Konzertsaal für 1500 Personen, ist das vergebliche Liebesmüh, weil es kaum einem auffällt.
Zuletzt haben Sie Bachs Cembalo-Konzerte aufgenommen. Spielen Sie diese gelegentlich auch auf dem Klavier?
Ich habe das D-Moll-Konzert ein einziges Mal auf dem modernen Flügel gespielt – das war kein schönes Erlebnis. Das moderne Klavier macht so ein typisches Cembalo-Stück stumpf: Es verliert an Kraft, gleichzeitig wirkt es elefantös.
Und was sagen Sie zu den vielen Kollegen, die das Werk am Klavier interpretieren?
Das Instrument allein ist für mich noch kein Ausschlusskriterium, schließlich können Sie auch auf einem Cembalo oder einem Hammerklavier uninformiert spielen. Interessant für mich ist, wenn sich jemand einem Stück auf ganz andere Weise annähert. András Schiff etwa geht von ganz anderen Prämissen aus, dennoch gibt es Momente, wo ich denke: Das ist eine Bereicherung für mich.
Nun gibt es verschiedene Auffassungen von Authentizität. Der Cellist Mischa Maisky etwa glaubt an „die Authentizität der Gefühle. Was immer vom Herzen des Künstlers kommt, ist authentisch“ – macht Maisky es sich damit zu einfach?
Ja, das tut er. Wenn jemand von der „Authentizität von Gefühlen“ spricht, wenn jemand sagt: „Ich fühle mich jetzt so und morgen vielleicht anders“ – dann heißt das für mich, er guckt nicht genau in die Noten. Es gibt in den Noten so vieles, was einem Rätsel aufgibt, wo Fragen entstehen. Dem kann ich nicht gerecht werden, indem ich sage: „Ich bin heute melancholisch, deswegen spiele ich das jetzt anders als gestern.“ Das ist für mich zu wenig.
Aber ist nicht die persönliche Emotion ein wichtiger Bestandteil der Interpretation?
Ich finde es nicht unbedingt interessant, anderen Leuten aufs Brot zu schmieren, wie meine augenblickliche Gefühlslage ist. Vielleicht vermittle ich die Gefühle, die ich nach der intensiven Beschäftigung mit einem Werk habe. Aber das ist in dem sehr pauschalen Satz von Maisky nicht enthalten.
Halten Sie sich mit Persönlichem zurück, um den Komponisten in den Vordergrund zu stellen?
Das hat nichts mit Zurückhaltung zu tun. Es ist eher der Versuch, ein bestimmtes musikalisches Idiom wie eine Sprache zu begreifen. Musik, die vor 200, 300 oder 400 Jahren komponiert wurde, ist in vielerlei Hinsicht wie eine Fremdsprache, da sie unter völlig anderen Bedingungen entstanden ist. Und wenn Sie eine Fremdsprache lernen, müssen Sie sich am Anfang den Regeln unterwerfen: Je mehr Sie die Syntax und Grammatik verinnerlicht haben, desto freier können Sie sprechen. An eine Authentizität der Gefühle zu glauben nützt nichts, wenn man die betreffende Sprache nicht kennt.
Maisky hält dem entgegen, dass auch Experten nicht wüssten, wie Bach ein Stück gerne gehört hätte.
Da stimme ich ihm zu: Wenn wir eine Aufnahme von Bachs Spiel hören könnten, wären wir wahrscheinlich höchst erstaunt. Allerdings kann man zumindest bestimmte Spielarten ausschließen, weil sie im Widerspruch zu den grammatikalischen Regeln stehen.
Waren denn die Interpretationen von Glenn Gould mit Bachs Grammatik vereinbar?
Gute Frage … auf jeden Fall nehme ich Gould ernst, weil man sofort merkt, dass es ihm nicht darum ging, sich seinem momentanen Gefühl zu überlassen, sondern seine Konstruktion war unglaublich durchdacht. Er hat es in ein Extrem getrieben und ist meiner Meinung nach auf höchstem Niveau grandios gescheitert. Er kreiste um sich selbst, er hat die Fenster zu lange geschlossen, sein Bach ist eine Interpretation ohne Frischluftzufuhr. Doch obwohl ich eigentlich mit nichts einverstanden bin, gehören seine Aufnahmen für mich zu den interessantesten Steinen des Anstoßes. Weil ich merke, dass da jemand sehr lange nachgefragt hat.
Barock und Wiener Klassik bilden zwar ihr Kernrepertoire, doch wirken Sie etwa auch an einer szenischen Aufführung der Winterreise mit, welche Schuberts Musik mit zeitgenössischer kombiniert.
Ja, dafür hat der französische Komponist Mark Andre Intermezzi geschrieben. Doch ich habe auch Werke von Brice Pauset und Isabel Mundry uraufgeführt: Musik der heutigen Zeit hat mich immer interessiert und sie zu spielen, ist für mich lehrreich und faszinierend. Gerade für mich, der sich so häufig fragt, wie der alte Bach oder Mozart das vielleicht gemeint hat, ist es wunderbar, wenn ich einfach eine Telefonnummer wählen und den Komponisten direkt fragen kann.