Anja Silja ist eine lebende Legende. Dabei wurde die Sängerin, die heute ihren 85. Geburtstag feiert, zunächst vielfach mit dem Superlativ „die Jüngste“ assoziiert. Mit nur 15 Jahren gab sie ihren ersten Liederabend, wenig später debütierte sie auf der Opernbühne mit Rossinis Rosina in „Il Barbiere di Sevilla“. Mit 19 gab sie erstmals in Wien Mozarts Königin der Nacht, im selben Jahr sang sie blutjung die Senta in „Der fliegende Holländer“ bei den Bayreuther Festspielen in der Regie von Wieland Wagner, der sie nachhaltig prägte. Einen Abschiedsabend schließt die Sopranistin kategorisch aus, dafür nimmt sie meinungsstark Stellung zu den (Fehl-)Entwicklungen des Regietheaters.
Frau Silja, als Sie in äußerst jungen Jahren schon in Bayreuth als Senta auftraten, erstmals im Alter von 19 Jahren, prophezeiten Ihnen Kritiker ein rasches Karriereende. Es kam aber gänzlich anders: Sie standen noch im Alter von 80 Jahren auf einer Bühne. Eine so lange Laufbahn von siebzig Jahren kann niemand anderes vorweisen, das ist ein einmaliger Rekord!
Anja Silja (lacht): Da kommt in der Tat niemand mit, nicht einmal Plácido Domingo, der naturgemäß als Mann viel später angefangen hat.
Ihre erste frühe Karriere bestimmten in erster Linie Wagnerinterpretationen und legendäre Inszenierungen mit Wieland Wagner.
Silja: Eigentlich hätte man nicht erwartet, dass ich eine Wagner-Stimme entwickle. Alles begann mit Koloraturarien, mit Liedern, die altersgerecht waren, später folgten dann Lieder von Brahms, Mozart und Schubert.
Es erstaunt, dass Sie das damals in jungen Jahren alles so erfassen konnten.
Silja: Das verdanke ich meinem Großvater. Wenn ein sechsjähriges Kind überhaupt die Funktionen des Singens bis zu einem gewissen Grad begreifen kann, ist da schon ein Talent dahinter.

Ein Ausnahmetalent waren Sie in jedem Fall, denn letztlich blieben Sie ja doch ein Unikum. Ihre erste frühe Opernkarriere begann mit 15 Jahren als festes Mitglied eines Opernhauses.
Silja: Ich sang damals noch Koloratur, die Zerbinetta, Rosina, und – etwas lyrischer – die Micaëla in „Carmen“. Aber interessiert haben mich damals schon hauptsächlich die großen Wagnerrollen, die ich in sehr jungen Jahren durch meinen Großvater kennenlernte. Mit 17 war ich dann in Stuttgart und Frankfurt engagiert mit Rollen wie „Troubadour“-Leonore, Santuzza, Turandot, aber auch immer noch als Königin der Nacht. Dann kam überraschend die Einladung von Wieland Wagner, die Senta in Bayreuth zu singen. Zu dem Zeitpunkt war ich, wie gesagt, 19 Jahre alt. Entscheidend war, dass ich aufgrund meines jungen Alters dem Ideal der Wagnerschen Figuren entsprach. Bis auf Kundry und ein bisschen auch Elisabeth sind alle seine Frauenfiguren zwischen 17 und 21 Jahren alt. Es ist schade, dass man sie dank des großen Orchesters immer mit sehr erwachsenen Sängerinnen besetzen muss. Der berühmte Akkord in „Tristan und Isolde“ steht für das Schicksal dieser jungen Menschen wie auch in anderen Liebesdramen, zum Beispiel „Romeo und Julia“ oder „Werther“, in denen die Protagonisten entweder zusammen sterben oder sich umbringen, da ihre Liebe keine Zukunft hat. Die erste Liebe vergisst man nicht, sie bleibt und prägt. Das bedeutet wohl auch dieser Wagnersche Schicksalsakkord.
Was war das Wichtigste, das Sie von Wieland Wagner gelernt haben?
Silja: Das kann man kaum beantworten. Ich lernte zu allererst, ich selber zu sein. So wie ich war, entsprach ich den Rollen, die ich sang, und ich lernte im Laufe unserer intensiven gemeinsamen Arbeit von 36 Inszenierungen innerhalb von sechs Jahren alles, was wichtig ist. Wieland hat sehr vielen Sängern auf die Sprünge geholfen, die später nicht als große Darsteller in die Geschichte eingingen, aber durch seine Regie diesen Eindruck erweckten. Es geht um die Haltung beim Stehen, es geht um das Zuhören des Partners und darum, den Sinn des vom Anderen Gesagten auf sich zu übertragen und dafür Neugier zu zeigen. Qualitäten, die man mittels Erfahrung und guter Regisseure lernt. Es gibt dadurch keine Zufallsbewegungen, die nichts aussagen. Wielands Persönlichkeit prägte auch seine Sänger.
In Ihrer zweiten Karriere im reiferen Alter entdeckten Sie Janáček für sich. Er war Ihre zweite große Liebe neben Wagner. Hier war es Ihr Verdienst, die Figuren menschlicher zu durchleben, allen voran die Küsterin in „Jenůfa“, die bis dato überwiegend als eine böse Frau ausgelegt worden war. Woher kam der Impuls zu dieser Entdeckung?
Silja: Ich hatte wenig Ahnung von Janáček, man kannte sein Werk kaum, allenfalls „Das schlaue Füchslein“, das als Märchen galt und eigentlich keines ist. Meine erste Begegnung mit ihm war 1970 in der Regie von Günther Rennert und Václav Neumann am Pult. Wie lebensnah die Menschen in seinen Dramen sind, war mir lange nicht bewusst. Erst als ich seine Lebensgeschichte las, verstand ich den tieferen Sinn in seinen Werken.
Besonders werden Sie natürlich mit der Emilia Marty in „Die Sache Makropoulos“ identifiziert, die Sie selbst als Ihre Lebensrolle bezeichnet haben. Und hier verhält es sich genau anders herum: Es braucht eine schon reifere Sängerin und keine junge…
Silja: … weil sie eine ewige Vergangenheit hat und sarkastisch ist, die Welt interessiert sie nicht mehr und dennoch sucht sie nach dem Lebenselixier, weil sie sich nicht vorstellen kann, nicht weiterzuleben. Aber eigentlich will sie das gar nicht und erkennt am Schluss, dass man sterben sollte, wenn die Zeit gekommen ist. Sie will nicht mehr hören, wie schön und jung sie ist, weil sie das in Wirklichkeit nicht mehr ist. Das kann man nicht mit 20 oder 30 Jahren darstellen. Noch dazu, da sie im Stück nicht altert, das ist nicht ganz einfach zu vereinen!

Heute wird mit dem Wort „Regietheater“ suggeriert, dass hier angeblich spannende Interpretationen Raum fänden, und es früher nur Rampen-Stehtheater gegeben hätte.
Silja: Darüber ärgere ich mich besonders. Wofür steht dieses Wort? Für Regie, Theater, Oper, Inszenierung? Ich weiß nicht, was das sein soll. Wenig erinnert an die Kunst, die zu den Werken gehört und Persönlichkeiten beschreibt. Es erzählt heute hauptsächlich mehr oder weniger, was wir täglich erleben und was weit entfernt ist von Historischem, was für immer modern bleibt und zeitlos ist. Heute gibt es immer weniger Regisseure, die das Hauptsächliche erzählen, die nicht nur auf Bühnenbilder achten, sondern auf Text und Musik. Text und szenisches Geschehen korrespondieren immer seltener miteinander. Das schadet vor allem dem Werk und der Komposition.
Nun werden Sie 85. Aber einen Abschiedsabend planen Sie nicht – oder doch?
Silja: Nein, das artet meistens in endlose Abschiedsabende aus. Für mich selbst wusste ich, wann ich meine letzte Emilia Marty sang, aber das habe ich für mich behalten. Birgit Nilsson hat nach ihrer letzten Vorstellung gesagt: „Nur ein Verbrecher kehrt noch einmal an den Tatort zurück.“