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Interview Anna Vinnitskaya

„Ein Bild auf dem Flügel malen“

Die russische Pianistin Anna Vinnitskaya über Inspirationsquellen, die russische Schule und ihren einsamen Weg nach Deutschland

vonChristoph Forsthoff,

Mancher Mann braucht für die berühmten drei Aufgaben – Haus, Sohn, Baum – ein Leben lang. Anna Vinnitskaya hat das Ganze binnen eines Jahres „absolviert“ und nebenher noch ihre Pflichten als Jungprofessorin an der Hamburger Musikhochschule erledigt.

Über Sie war jüngst von einem „Tastenvieh, das im Dunklen den Angriff vorbereitet“ zu lesen – erkennen Sie sich da wieder?

(lacht) Über mein Erscheinungsbild habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich versuche mich völlig in die Musik zu vertiefen – und ob ich dabei wie ein Tier wirke, ist mir vollkommen egal.

Auf jeden Fall scheinen Sie dabei dem Löwen Ihres Sternzeichens sehr nahe zu kommen, wenn wir den Kritikern glauben, die gern den „kraftvollen Anschlag“ und das zupackende Moment betonen – machen Sie ein spezielles Krafttraining?

(lacht) Ich esse ganz gut, das muss ich zugeben – doch ins Fitnessstudio gehe ich nicht, um meine Finger zu trainieren. Aber natürlich lege ich etwa bei einer Brahms-Sonate oder einem Prokofjew-Konzert viel physische Kraft in mein Spiel – bei Bach oder Beethoven hingegen mehr mentale Kraft.

Ist das die gern bemühte „russische Schule“, die wir da in Ihrem Anschlag hören?

Die sogenannte russische Schule existiert heute nicht mehr, denn viele Professoren sind schon zu Sowjet-Zeiten ausgewandert und ins Ausland gegangen. Allerdings hatte ich einen sehr guten Professor in Rostov, der mir noch diese ganze russische Basis beigebracht hat.

Sie sprechen von den technischen Grundlagen?

Ja, die Basis. Wir haben etwa viel Zeit verwandt auf die zahlreichen verschiedenen Farben, die sich durch einen unterschiedliche Anschlag erzeugen lassen, und er hat mir diese vielen verschiedenen Anschlagsarten gezeigt mit dem Ziel, das „Schlaginstrument“ Klavier zum Singen zu bringen. Und für diese „russische Schule“ bin ich ihm sehr dankbar.

Ihren ersten Klavierunterricht haben Sie als Sechsjährige bekommen – ganz freiwillig?

Ich habe mir nie die Frage gestellt, ob ich eine Pianistin werden möchte. Meine beiden Eltern sind Pianisten, mein Opa war Dirigent, mein Onkel ein erfolgreicher Geiger, Preisträger des renommierten Tschaikowsky-Wettbewerbs – Musik hat seit meiner Geburt einfach zu meinem Leben dazu gehört. Vermutlich war es anfangs schon ein Wunsch meiner Eltern, doch nach fünf, sechs Jahren hat für mich das Klavier ebenso zum Leben gehört wie das Atmen oder das Essen.

In den ersten sechs Jahren in Russland hat Ihre Mutter Sie unterrichtet – klappte das immer reibungslos?

(lacht) Nein. Wie alle Kinder war auch ich sehr, sehr trotzig – sie hat gesagt, ich müsse es so machen und ich habe es anders gemacht. Es kam schon sehr oft zu Konflikten, zumal dann auch noch mein Vater dazu kam, der viel Jazz gespielt hat und mir auch noch Improvisation und Jazz beibringen wollte. Da habe ich aber gesagt: Schluss jetzt, mir reicht das andere schon!

Und wenn Sie sich dann mit Ihrer Mutter gestritten haben, haben Sie anschließend zwei Tage nicht mehr miteinander gesprochen?

(lacht) Nein, so schlimm ist es nicht gewesen. Sie hat mich dann einfach in Ruhe gelassen, und ich habe oft dann doch das gemacht, was ich wollte. Aber ich glaube, das ist auch ganz normal bei Kindern…

War solch ein Pianisten-Elternhaus eher ein Ansporn oder eine Last? 

Es war schon eine Belastung, die aber nötig war in dieser Zeit – denn ohne diese Last hätte ich heute nicht diese pianistische Basis und solch ein breites Repertoire in meinen Händen und meinem Kopf. Dadurch musste ich mich nämlich als 18-jährige kaum noch mit Technik am Klavier plagen, sondern konnte viel mehr in die geistige Arbeit an neuen Werken investieren.

Als 18-Jährige sind Sie ja dann nach Deutschland gegangen – damals für Sie ein völlig fremdes Land, dessen Sprache Sie auch nicht beherrschten…

(lacht) …kein Wort außer „Ja“ und „Nein“ und „Danke“.

Und dennoch hatten Sie keine Furcht vor diesem Schritt?

Ich habe lange darüber nachgedacht. Meine Eltern wollten es, ich anfangs nicht, denn schließlich hatte ich ja nicht nur meine Eltern und Freunde in Russland: Mein Vater fuhr mich auch zu den Konzerten und zum Unterricht, meine Mutter hat für mich gekocht, gewaschen und mir alles abgenommen – und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich das plötzlich alles allein schaffen sollte.

Aber irgendwie ist es Ihnen dann ja doch gelungen…

Aber die ersten zwei Jahre in Deutschland waren die schwierigsten meines Lebens. Ganz allein in der Fremde, ohne die Sprache zu beherrschen, ohne Eltern – ich wusste noch nicht mal, was ich zum Frühstück einkaufen sollte. In all diesen logistischen Sachen war ich völlig hilflos und habe mich sehr einsam gefühlt – ja, ich hatte furchtbares Heimweh.

Gab es Momente, wo Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten?

Oh ja. Ich bin an der Hochschule ziemlich schnell vom zweiten ins achte Semester gesprungen und da habe ich gedacht: Jetzt mache ich meine Abschlussprüfung, und dann fahre ich nach Hause. Aber dann bin ich meinem Professor begegnet.

Sie sprechen von Evgeni Koroliov.

Ja, er hat mir wirklich eine ganz neue Welt der Musik und der Liebe zur Musik eröffnet – und von dem Moment an war ich so begeistert, dass ich ganz rasch wieder vergessen habe, dass ich eigentlich nach Hause fahren wollte.

Was war so neu an dieser Welt, die Ihnen Ihr Lehrer eröffnet hat?

Ich habe bei Koroliov gelernt, die Musik zu lieben und aus dem Bauch zu spielen. Jede Note nicht irgendwie und für sich zu spielen, sondern in jeder Note in jedem Moment dabei zu sein. Nicht einfach nur ein Stück richtig zu spielen in puncto Technik und Dynamik, sondern sich selbst und dem Publikum damit etwas zu sagen.

Eine Art von Horizonterweiterung?

Ja, und zwar in dem Sinne, dass Koroliov mir klar gemacht hat, dass es nicht nur Musik gibt, sondern auch Literatur oder Bildende Kunst. Oft hat er mich gefragt, ob ich dieses Buch gelesen oder jenes Bild angeschaut hätte – und damit hat er mir auch die Welt der Malerei und Literatur ganz neu eröffnet.

Inwiefern ganz neu?

Er hat mir gezeigt, was ich aus den anderen Künsten für mein Klavierspiel schöpfen kann. Allein all die Gemälde und Bilder, die man sich anschaut: Oft habe ich diese heute vor mir, wenn ich spiele – und das erleichtert das Spiel sehr.

Inwiefern erleichtern solche Bilder die Interpretation eines Werkes?

Ich kann so auf meinem Instrument etwas beschreiben, ein Bild auf dem Flügel malen oder eine Geschichte erzählen – statt nur auf Tempi und Dynamik zu achten, weil ich in meiner Interpretation nichts zu sagen habe.

Gar so wenig kann das bei Ihnen nicht gewesen sein, immerhin hatten Sie bis dahin ja schon einige Wettbewerbe gewonnen, auch den berühmten „Concours Reine Elisabeth“ – dabei mögen Sie eigentlich gar keine Wettbewerbe.

Ja, aber im Erfolgsfall bescheren sie einem eben auch die Möglichkeit, mit einem sehr guten Dirigenten und Musikern auf einer großen Bühne aufzutreten – auch wenn dies natürlich nicht unbedingt eine große Karriere bedeutet. Aber diese Chance habe ich genutzt.

Und waren froh, keine Wettbewerbe mehr spielen zu müssen?

Mir gefällt einfach nicht, dass da eine Jury sitzt, die nur nach Kritikpunkten sucht – und nicht wie ein normaler Zuhörer mit positiven Gefühlen und Gedanken in solch ein Konzert geht.

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