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Interview Antoine Tamestit

„Wir sollten offen sein für neue Konzepte“

Der französische Bratschist Antoine Tamestit spricht im Interview über einen Schrei auf der Bühne, versiegelte Programmhefte und seine Beziehung zu einem geliehenen Instrument.

vonJakob Buhre,

Antoine Tamestit denkt in die Zukunft. Als es beim Interview im Dezember 2019 in Potsdam um seine elfjährige Erfahrung mit der „Mahler“-Stradivari von 1672 geht, korrigiert er: „Wenn Ihr Artikel erscheint, sind es bereits 12 Jahre.“ Derweil schlummert die Viola, deren Wert im sieben- bis achtstelligen Bereich liegt, im unverdächtigen Instrumentenkoffer auf dem Klavier. Und obwohl niemand anderes in der Künstlergarderobe anwesend ist, kommt man nicht umhin, sich hin und wieder mit einem kurzen Blick zu vergewissern, dass sie noch da ist.

Monsieur Tamestit, Sie haben vor Kurzem im Dortmunder Konzerthaus gespielt – und niemand wusste es vorher.

Antoine Tamestit: Ja, das war das sogenannte „Joker-Konzert“. Es gab keine Plakate, das Programmheft war versiegelt und vor der Bühne war ein Vorhang.

So ein Überraschungsformat kennt man vom Kino, dort heißt es „Sneak Preview“…

Tamestit: …und ich liebe es!

Warum?

Tamestit: Weil man ohne jedes Vorurteil in die Vorstellung geht. Heute Abend zum Beispiel werde ich mir den jüngsten Teil von „Star Wars“ anschauen – da habe ich wahnsinnig viele Erwartungen. Oder morgen, da höre ich in der Berliner Philharmonie Daniel Harding und Frank Peter Zimmermann mit Beethovens Violinkonzert, da lässt sich eine bestimmte Erwartungshaltung beim besten Willen nicht vermeiden.

Wie kam Ihr „Joker-Konzert“ denn beim Publikum an?

Tamestit: Ich habe mit dem Cembalisten Masato Suzuki ein reines Bach-Programm gespielt. Bach, Cembalo und Bratsche – das ist eine Kombination, die man im Spielplan sonst eher selten findet. Und für uns war es ein tolles Gefühl, dass das Publikum hierzu keine vorgefasste Meinung hatte. Wenn von den 700 Zuhörern vielleicht ein paar enttäuscht waren, finde ich das in Ordnung. Weil sie sich die Musik zumindest angehört und erst danach entschieden haben, ob sie sie mögen oder nicht. Von den anderen gab es Standing Ovations und ich hatte das Gefühl, dass dieser Applaus eine sehr ehrliche Reaktion war.

Braucht es generell mehr von solchen innovativen Formaten im klassischen Konzertbetrieb?

Tamestit: Ich denke schon. Nehmen wir nur den Aufbau eines gewöhnlichen Orchesterkonzerts: Da findet das Solo-Konzert immer im ersten und fast nie im zweiten Teil statt, dieses Format ist sehr festgefahren. Im März werde ich mit dem DSO Berlin an einem Abend zwei Bratschenkonzerte, von Martinů und Bartók, aufführen. Für mich ist das ein Kraftakt, aber so können wir die Verbindungen zwischen den Konzerten zeigen, die ja beide im amerikanischen Exil komponiert wurden. Doch zwei Solo-Konzerte an einem Abend, das ist im Klassik-Betrieb beinahe exotisch. Oder dass in einem Sinfoniekonzert Kammermusik eingebaut wird, sieht man genauso selten. Es wäre auch schön, wenn es mehr kürzere Konzerte gäbe…

Kürzer? Warum das?

Tamestit: Ich mag es zum Beispiel, wenn ich im Konzert nur eine Sinfonie höre. Darauf kann ich mich dann anders konzentrieren, als wenn drei Stücke auf dem Programm stehen. Als Zuhörer gehe ich manchmal in der Pause nach Hause, um nichts anderes zu hören, um nur mit diesem einen Stück zu sein. Ich denke, wir können noch viel innovativer sein, übrigens auch was die Beleuchtung betrifft. Verglichen mit Pop oder Rock geschieht bei der Klassik in puncto Licht so gut wie gar nichts.

Wünschen Sie sich mehr Show-Charakter?

Tamestit: Nein. Trotzdem gibt es beim Licht noch viel Spielraum. Ich habe einige Konzerte mit dem Quatuor Ébène im Dunkeln gespielt, nur unsere kleinen Pult-Lichter waren eingeschaltet. Dadurch entsteht eine ganz andere Art des Zuhörens. Natürlich möchte ich auch weiterhin Konzerte in traditioneller Form erleben. Aber gleichzeitig sollten wir offen sein für neue Konzepte.

Ihre künstlerische Offenheit ist spätestens seit 2015 bekannt, als Sie das Bratschenkonzert von Jörg Widmann uraufgeführt haben. Können Sie ein bisschen über die Entstehung verraten?

Tamestit: Ich hatte Jörg zum ersten Mal 2008 nach einem Werk gefragt. Mit ihm und Francesco Piemontesi haben wir als Trio auch einige Kammermusikkonzerte gespielt. Und immer wenn wir zusammenkamen, habe ich mit Jörg über Möglichkeiten gesprochen, wie man mit der Bratsche Klänge erzeugt, habe ihm bestimmte Effekte gezeigt, auch verrückte Dinge, die man mit dem Bogen machen kann. Als er später mit dem Komponieren anfing, haben wir viel telefoniert, ich habe ihm am Handy Dinge vorgespielt, zum Teil improvisiert, und er hat sie exakt so notiert.

Das dreißigminütige Konzert bietet viele ungewöhnliche Momente: Zuerst zupfen und klopfen Sie die Bratsche nur, später wirbeln Sie mit dem Bogen durch die Luft, „duellieren“ sich mit der Tuba, laufen umher, Sie stimmen das Instrument, während das Orchester weiterspielt – und Sie schreien.

Tamestit: Ja, an der Stelle wollte Jörg einen Höhepunkt gemeinsam mit dem Orchester komponieren und fragte mich, ob ich in dem Moment den höchstmöglichen Ton spielen könnte. Doch wenn ich mit der Bratsche die höchste Note spiele, habe ich gegenüber dem Orchester nicht genug Kraft. Also habe ich vorgeschlagen zu schreien.

Ist das Widmann-Konzert vielleicht das Stück, das aus der Bratsche die größte Klang-Vielfalt hervorlockt?

Tamestit: Gut möglich. Dazu würde ich aber auch Ligetis Viola-Sonate zählen, ebenso Berios „Voci“ mit Orchester. Wobei Widmann nicht nur musikalisch Grenzen überschreitet, sondern generell die Möglichkeiten auslotet, die man als Künstler auf der Bühne hat. So wie Jörg es sieht, ist das Konzert eine Art Suche nach der eigenen Position im klassischen Musikleben und generell im Leben.

Antoine Tamestit
Antoine Tamestit

Sie sind bei der Aufführung nicht nur Musiker, sondern auch ein Stück weit Schauspieler…

Tamestit: Richtig. Allerdings trifft das in gewisser Weise auch auf alle andere Musik zu. Wenn ich Bach oder Mozart spiele, muss ich daraus keine schauspielerische Darbietung machen, aber ich muss bei jeder Phrase verstehen, welche Stimmung hier herrscht, welches Gefühl ich ausdrücken will, welche Geschichte ich erzählen will. Das ist dann wie ein kleines Theaterstück in deinem Kopf.

Nun spielen Sie eine Stradivari-Viola, welche der schweizerischen Habisreutinger-Stiftung gehört. Ist die Stiftung nicht besorgt, wenn Sie im Widmann-Konzert mehrfach auf den Korpus klopfen?

Tamestit: Ich klopfe nicht auf den Korpus.

Aber in der Video-Aufzeichnung des Hessischen Rundfunk …

Tamestit: … sieht man, wenn man genau hinguckt, dass ich auf die Kinnstütze schlage. Und die ist nicht von Stradivari. Es ist mir vertraglich nicht erlaubt, etwas auf dem Korpus des Instruments zu spielen. Das Risiko, die Stradivari zu beschädigen, wäre zu hoch.

Gibt es noch andere Regeln, die Sie als Leihnehmer einer Stradivari beachten müssen?

Tamestit: Ja, ich muss der Stiftung bei längeren Flügen die Reisedaten mitteilen. Die Stiftung besitzt insgesamt sechs Instrumente von Stradivari. Und es ist vertraglich festgehalten, dass diese Instrumente nie in ein und demselben Flugzeug reisen dürfen.

Nun sind die allermeisten Solisten „nur“ Leihnehmer und nicht Besitzer ihres Instruments. Wie gehen Sie damit um?

Tamestit: Ich habe dazu zwei Meinungen. Zum einen finde ich die Summen, um die es heute bei diesen Instrumenten geht, absurd. Spekulation hat dafür gesorgt, dass die Preise für Stradivaris ins Unermessliche gestiegen sind, für Bratschen sogar noch mehr, weil sie seltener sind. Es gab eine Zeit, bis in die achtziger Jahre hinein, in der Musiker diese Instrumente noch erwerben konnten. Aber fragen Sie heute mal nach, wie viele Top-Musiker in letzter Zeit ihr Instrument gekauft haben – das ist nur eine Handvoll. Und selbst diese fünf Musiker, die große Stars sind, mussten dafür einen Kredit aufnehmen.

Also kaufen Stiftungen diese Instrumente und vergeben sie auf Zeit an Musiker.

Tamestit: Mir gefällt dieses Prinzip eigentlich ganz gut. In gewisser Weise stimme ich da dem Geiger Ivry Gitlis zu, der einmal gesagt hat: „Es ist nicht mein Instrument, sondern ich bin sein Geiger.“ Ich gehöre zu seinem Leben, und sein Leben ist viel länger als meins. Das bedeutet, ich habe die Pflicht, es zu respektieren, zu pflegen und auf bestmögliche Weise an die nächste Generation zu übergeben. Wenn diese Stradivari-Bratsche auch im 22. Jahrhundert noch so ein großartiges Instrument ist, das wäre doch wunderbar!

Und es läge wahrscheinlich auch im Interesse der Stiftungen.

Tamestit: Natürlich, die Stiftungen sind daran interessiert, dass es gut klingt, und sie haben ein Auge darauf, ob du als Musiker auf verschiedene Weise etwas Gutes für das Instrument tust. Die Stiftungen haben auch verstanden, dass es gut für das Instrument ist, wenn es über einen langen Zeitraum von der gleichen Person gespielt wird. Ich habe dieses Instrument jetzt zwölf Jahre, ich bin mit ihm sehr verbunden, ich bin auch versucht zu sagen, es ist „mein“ Instrument. Ich bin übrigens genauso lange verheiratet. Und nach zwölf Jahren Ehe hat man so viel Vertrauen und gegenseitiges Verständnis aufgebaut… Ich weiß heute, was ihm guttut, ich achte genau auf die Luftfeuchtigkeit, die Wahl der Saiten, des Bogens. Es tut dem Instrument auch gut, wenn es viel gespielt wird, wenn das Repertoire unterschiedlich ist. Eine Stradivari ist ja kein Gemälde. Sie ist ein Kunstwerk und gleichzeitig ein Werkzeug.

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