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Interview Antonello Manacorda

„Ich dachte sofort: Das war’s!“

Wenn der Italiener Antonello Manacorda von seinen Reisen nach Berlin zurückkehrt, ist er überwältigt von der Stadt – und freut sich auf sein Orchester in Potsdam

vonHelge Birkelbach,

Von einem Dirigenten kann man annehmen, dass er pünktlich ist. Antonello Manacorda ist überpünktlich. Das findet der Wahlberliner einfach höflich – und auch besser für sich selbst, um sich ganz gelassen auf die Situation einzustellen.

Gutes Timing. Kann man Pünktlichkeit trainieren?

Antonello Manacorda: Ja, kann man. Ich bin immer zu früh da – wenn man wie ich einmal ganz böse auf die Nase gefallen ist (lacht). Es war in Paris. Ich war damals noch Konzertmeister, musste zu einer Probe mit Pierre Boulez und nahm die U-Bahn. Alles sehr kompliziert, ich hatte mich schlicht verschätzt. Ich kam also eine halbe Stunde zu spät, das Orchester wartete, Boulez wartete und ich dachte sofort: Das war’s! 120 Leute auf der Bühne, „Le Sacre du prin­temps“ stand auf dem Programm. Zum Glück ging es gut aus. Das war mir eine Lehre. Seitdem bin ich immer etwa eine Viertelstunde zu früh da … Obwohl, das ist eigentlich eine schlechte Gewohnheit, weil das Orchester immer einen gewissen Druck verspürt, wenn man zu früh dran ist. In unserer Arbeit ist der Aspekt der Zeit sehr wichtig. Es geht ja nicht nur um den Respekt untereinander, sondern auch um den Respekt vor dem Werk. Konzentration braucht Zeit. Das Werk selbst ist eine Formung von Zeit.

Wie teilen Sie sich die Zeit ein, die bei einer Probe zur Verfügung steht?

Manacorda: Man hat zweieinhalb oder drei Stunden Zeit, zwischendurch eine Pause, sehr konzentriert. Das Publikum denkt oft, dass man wochenlang Zeit hat zum Proben. So ist es aber nicht. Man benötigt ein gutes Timing, Energiegefühl, Aufmerksamkeit für die Musiker. Wenn man zu viel verlangt, kann es auch sein, dass man an der Situation vorbeiprobt. Es bringt ja nichts, wenn man sein Ding durchzieht, durchprescht, ohne nach rechts und links zu schauen. Die Lust auf die Musik sollte immer da sein. Wir machen einen Job, der nicht gleichförmig im Sekundentakt abläuft, sondern der kreativ ist. Wenn ich spüre, dass der kreative Findungsprozess gerade nicht so rund läuft, suche ich die Ursache zuerst bei mir selbst. Dann erfolgt eine schnelle Selbstanalyse, warum es so läuft, warum ich nicht überzeugend bin und dann reagiere ich. Wechsle die Attitüde, konzentriere mich auf einen Teilaspekt oder rede mit den Musikern.

Jede Saison „Ihrer“ Kammerakademie Potsdam ist einem bestimmten Thema gewidmet. 2016/17 ging es um das Verhältnis von Urbanität und Musik. Wie kam es zu dieser Wahl?

Manacorda: Für uns spielt Potsdam eine große Rolle, weil wir in der Stadt auch sozial aktiv sind. Wir arbeiten zum Beispiel mit Kindern in einer Potsdamer Schule, es gibt Probenbesuche mit dem Ohrphon.

Antonello ManacordaWas ist ein Ohrphon?

Manacorda: Das ist ein kleines Gerät mit einem Kopfhörer, es funktioniert wie ein Audio-Guide im Museum. Mit dem einen Ohr lauscht man der Musik, während auf dem anderen über die einteilige Hörmuschel spezielle Erklärungen abgerufen werden können. Da wird zum Beispiel ein Werk von Copland oder Bernstein erläutert, mit deren Bezug zum modernen Stadtleben, der Verwendung von Geräuschen und populären Tanzrhythmen. Das Ohrphon schafft Nähe zur Erlebniswelt des Publikums. Bei den Saisonthemen geht es immer um bestimmte Aspekte des Lebens, die die Musik beschreibt.

Warum wählt man solche Themen? Auch um es dem Publikum einfacher zu machen?

Manacorda: Ich habe viele Jahre mit Claudio Abbado gearbeitet. Er war ein Meister in der Wahl von Themen, mit interdisziplinären Ansätzen. Das Interessante daran ist, dass man Stücke, die sonst kaum zu hören sind, in das Programm integrieren kann. Beim Saisonthema „Wien“ hatten wir das Kammerkonzert von Alban Berg dabei, ein Doppelkonzert. Tatsächlich ist es für das Publikum besser nachvollziehbar. Nicht: Ach, ich gehe jetzt in ein Kammerkonzert, das ich nicht kenne – sondern: Ja, ich erkenne den Zusammenhang mit der klassischen Wiener Schule. Es eröffnet uns als Kammerorchester programmatische Möglichkeiten, die man sonst nicht hat. Es sieht einfach auch besser aus. Das Booklet kann mit dem Thema grafisch schön gestaltet werden, zudem wird die Vermittlung komplexer Bezüge und Inhalte besser nachvollziehbar. In der kommenden Saison wechseln wir zum Beispiel ins Spirituelle, zum Himmel, das Thema ist „Oben und Unten“. In der nun abgeschlossenen Saison blieben wir ja ganz auf dem Boden, mitten im Leben. Es geht immer um Wechselwirkungen. Der Bezug von Stadt, Mensch und Natur beschäftigte uns. Potsdam ist nicht nur eine prächtige Stadt, sie hat auch sehr viel Natur zu bieten.

Nun stammen Sie aus Turin. Wie klingt Turin?

Manacorda: Zunächst: Es ist eine sehr alte und noble Stadt, mit römischer Geschichte. Ab dem Ende des 13. Jahrhunderts prägten die Savoyer die Stadt, in der Barockzeit wurde sie größer und größer, später kam die Großindustrie dazu. Turin klingt nach Auto, sehr viel Verkehr, sehr laut. Es hat aber auch eine Menge Grün zu bieten. Innerhalb weniger Minuten ist man raus aus dem Lärm, die Natur liegt ganz nahe. Nur in den Ferien im August ändert sich das überraschend, dann kehrt plötzlich Ruhe ein. Ansonsten: laut.

Wie klingt Potsdam?

Manacorda: Harmonisch. Potsdam klingt sehr rund, würde ich sagen. In den Jahren, in denen ich die Stadt nun besser kennengelernt habe, sehe ich immer weniger Kontraste. Einiges wurde abgerissen und neu gebaut, vieles saniert. Der Bestand mit wunderschöner Architektur prägt das Bild. Hell und offen! Berlin ist viel dunkler und dichter. Potsdam ist für uns als Ensemble ideal. Wir haben kurze Wege, wir haben hier die Ruhe, um konzentriert zu arbeiten. Am Mittag gehen wir ins Café, man kann gut essen und ist dann schnell wieder im Nikolaisaal. Alles nah beieinander, wie gesagt, sehr angenehm. Wenn eine Stadt zu viel von allem hat, zu viel Zerstreuung, kann man sich weniger konzentrieren.

Und wie klingt Berlin?

Manacorda: Berlin ist alles! Es ist wirklich unglaublich. Ich liebe diese Stadt, trotz Traurigkeit, Dunkelheit, heftiger Kontraste. Ich wohne in Kreuzberg. Neulich Abend bin ich wieder am Kottbusser Tor vorbeigefahren und ich dachte mir: Es ist so absurd, wie wild das Leben hier brüllt – und nur ein paar Schritte weiter sitzt man am Ufer vom Landwehrkanal in der puren Idylle. Ganz unterschiedliche Milieus, Communities, Menschen. Berlin ist vielfältig wie keine andere Stadt. So viele verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen. Es ist eine Kakofonie. Oder besser gesagt: eine Polyfonie, wo man immer Neues heraushören und entdecken kann. Aber man muss es wirklich wollen. Das kann anstrengend sein. Das war schon ein Schock für mich, als ich aus Turin kam und überall an den Häusern noch Einschusslöcher vom Krieg sah. In meiner ersten Wohnung im Bötzowviertel lebte ich im 2. Stock und niemand wohnte über mir, weil eine Bombe im Krieg die restlichen Geschosse abgetragen hatte. Über mir war – nichts! Ich wohnte also im Dachgeschoss im 2. Stock.

Hört sich an, als ob Sie sich in Berlin wohlfühlen. Wo ist Ihr Zuhause, Ihre Heimat?

Manacorda: Das ist einfach zu beantworten. Ich war ja schon früher viel unterwegs. Sobald ich von Konzertreisen nach Berlin zurückkam – ob nun bei der Landung mit dem Flugzeug in Tegel oder mit dem Auto auf der AVUS – ist es dann passiert: Mir kamen die Tränen. In Turin ist es nicht einfach zu leben, weil die Gesellschaftsschichten nicht durchlässig sind; es ist sozusagen eine altmodische Stadt. Berlin war und ist für mich eine Glücksinsel. Ich genieße die Freiheit, die man hier hat. Man kann rumlaufen, wie man will, und wird nicht sofort beurteilt oder abschätzend betrachtet. Das einzige, was mir hier fehlt, ist das Meer. Idealerweise sollte Berlin am Mittelmeer liegen. Die einzige Stadt, die diesem Wunsch entspräche, wäre Barcelona.

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