Das Schleswig-Holstein Musik Festival ist für Baiba Skride in diesem Jahr ein doppeltes Heimspiel: Zum einen gibt die Wahlhamburgerin Konzerte in der Region um die Hansestadt, zum anderen fokussiert sich das Festival mit dem Länderschwerpunkt Baltikum auch auf ihre Heimat Lettland.
Frau Skride, Sie werden mit mehreren Konzerten beim SHMF präsent sein, das in diesem Jahr den Länderschwerpunkt Baltikum hat. Wie verbunden sind Sie heute mit Ihrer Heimat Lettland?
Als Hamburgerin bin ich in das Alltagsleben in Lettland natürlich nicht mehr so eingebunden. Aber ich fahre mindestens zwei- oder dreimal im Jahr hin, entweder um Konzerte zu spielen, oder um meinen Kindern das Land zu zeigen. Es ist meine Heimat, ich bin stolz, aus Lettland zu kommen und ich fühle mich dort sehr wohl.
Sie kamen mit 14 Jahren von Lettland nach Deutschland. Begreifen Sie Migration auch als Quelle von Kreativität?
Ich denke, es ist wichtig, dass man offen ist und viel erlebt. Dazu gehört auch, irgendwann vom sicheren Zuhause wegzukommen und etwas Neues anzufangen und auszuprobieren – Abenteuer zu erleben. Für mein Geigenspiel war es einfach notwendig, dass ich aus Lettland wegfahre, weil ich ein viel größeres Spektrum an Möglichkeiten brauchte, ich wollte andere Konzerte hören, Eindrücke sammeln, mehr erfahren und lernen. Dass ich dann in Deutschland bleiben würde, daran habe ich damals noch nicht gedacht. Übrigens sage ich auch heute noch, wenn ich nach Lettland reise, ganz automatisch „wir fahren nach Hause“, obwohl mein Zuhause ganz klar Hamburg ist. Ich denke, das ist auch wichtig, dass man diese Basis, wo man herkommt, noch irgendwo im Gefühl hat.
War das Verlassen der Heimat damals aber auch eine schmerzhafte Erfahrung?
Nein. Die Zeiten waren so spannend für uns, weil wir bis dahin ja in einer Isolation aufgewachsen sind. Es war nicht vorstellbar, so frei zu reisen. Deshalb waren wir so glücklich über die offenen Grenzen, wir haben an möglichst vielen Wettbewerben teilgenommen, um andere Länder zu sehen. Natürlich war nicht alles einfach, meine Anfangszeit in Rostock war relativ kompliziert und anstrengend. Aber mir war klar, dass all das notwendig war.
Was war neu für Sie im Ausland?
Wir sind früher zum Beispiel nie ins Restaurant gegangen, für uns gab es zu Sowjetzeiten nur diese mensaartigen Kantinen. Wir wussten nicht, wie man im Restaurant isst und sich benimmt. Mit Stäbchen zu essen, oder rohen Fisch – das konnte sich von uns keiner vorstellen.
Sie sagten vor einigen Jahren im concerti-Interview: „Wo man aufgewachsen ist, das beeinflusst deine Person, deine Gefühle.“ Gibt es Dinge in Ihrem Geigenspiel, die Sie auf Ihre Wurzeln zurückführen?
Ich denke, was für uns sehr charakterisierend ist: Letten stellen sich nie unangenehm in den Vordergrund. Das habe ich zum Beispiel bei Andris Nelsons beobachtet, unter dessen Leitung ich oft spiele: Er ist sehr selbstbewusst und weiß, was er möchte, aber er ist nie arrogant. Ich glaube, bei Letten ist so etwas überhaupt nicht vorhanden. Und ich hoffe, dass diese Natürlichkeit auch bei mir auf irgendeine Weise hörbar ist.
Sich nicht in den Vordergrund zu stellen, bedeutet das auch Zurücknahme gegenüber dem Komponisten?
Für mich persönlich ist es so, dass ich versuche, möglichst den Komponisten in den Vordergrund zu rücken und nicht meine eigene Interpretation. Vielleicht kommt das auch daher, dass wir in Lettland wirklich viel Respekt vor der Musik haben. Wir sind damit aufgewachsen, Musik ist sehr in das Alltagsleben einbezogen, es ist etwas ganz Natürliches, Musik zu machen.
Welche Unterschiede gibt es denn bei der Musikerziehung zwischen Deutschland und Ihrer Heimat?
Mir ist beim Studium in Rostock, aber auch generell in Deutschland aufgefallen, dass man am Anfang erst mal mit Gehörbildung und Harmonielehre beginnt. Das hatten wir in Lettland bereits alles in der Schule. Es hat mich überrascht, dass man auf die Hochschule kommt, aber noch kein Notendiktat schreiben kann. Später habe ich verstanden, dass es hier nicht so eine Vorausbildung in den Musikschulen gibt wie in Lettland.
Je früher man anfängt, desto besser?
Wenn man etwas wirklich ernsthaft machen will, denke ich schon, dass es sehr wichtig ist, früh anzufangen. Das Gleiche gilt zum Beispiel für den Sport, und da gibt es hier ja alle möglichen Vereine, wo man als Kind früh anfangen kann, das müsste für Musik genauso sein. Es gibt natürlich Musikschulen in Deutschland, sie sind aber nicht so präsent für Kinder, wie es in Lettland der Fall ist. Für meinen Sohn, der jetzt fünf Jahre alt ist, suchen wir gerade einen Platz – er möchte unbedingt Gitarre spielen. Aber auch wenn er nicht Musiker werden sollte: Ich denke, es ist generell für die Bildung unheimlich wichtig, dass man Musik lernt.
Wie ist es, wenn Sie heute Musik eines baltischen Komponisten hören, hören Sie dann auch ein Stück Heimat?
Von den neuen zeitgenössischen Komponisten kenne ich noch zu wenig. Aber bei denjenigen, die ich gehört habe, als ich noch in Lettland lebte, Vasks zum Beispiel – da erkenne ich schon, dass sie aus Lettland kommen. Man hört eine gewisse Melancholie in der Musik und den lettischen Stolz: Es gibt immer ein Zitat oder ein Echo von einem Volkslied oder einem Folklore-Thema.
Die Schwere, die etwa im Klavierquartett von Pēteris Vasks liegt, welches Sie beim SHMF spielen, die liegt also auch in der baltischen Mentalität begründet?
Ja, wobei es nicht nur die Mentalität ist, sondern auch die Dinge, die man in der Sowjetunion und zur Zeit des Umbruchs erlebt hat. Für die Künstler, die das damals wirklich bewusst wahrgenommen haben, war das eine unglaublich spannende Zeit, unglaublich emotional und teilweise auch eine sehr schwere Zeit. Das spiegelt sich in der Musik wieder.
Sind Sie als Lettin die Idealbesetzung für ein Werk Ihres Landsmanns Vasks?
Das würde ich niemals behaupten. Ich kenne die Musik gut, weil ich sie öfter gehört und gespielt habe. Aber ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass man unbedingt aus dem gleichen Land kommen muss, um das gut zu spielen. Dann könnte ich keinen Brahms und kein Deutscher Schostakowitsch spielen.
Doch vielleicht können Sie diese Schwere einfach besser nachvollziehen.
Vielleicht. Aber ich will meine Interpretation nicht so hochhängen. Musik muss offen sein, sie muss auch von komplett anderen Kulturen interpretiert werden. Das gibt der Musik nur Gutes. Natürlich habe ich ähnliche Ursprünge und kann vielleicht verstehen, wie er das gemeint hat. Aber das heißt nicht, dass ich das Werk besser interpretiere.
„Auch wenn wir auf den ersten Eindruck etwas kühl wirken, wir sind wirklich sehr warmherzige Menschen“ haben Sie damals im concerti-Gespräch gesagt. Gibt es manchmal Situationen, wo Sie Ihrem Gegenüber das noch erklären müssen?
Zuhause ist es schon manchmal so, dass mein Mann sich beschwert, dass ich nicht so viel rede (lacht). Es ist bei uns einfach so: Man überlegt viel, man ist in seinen Gedanken, aber es wird nicht so laut und nicht so viel diskutiert. Wobei ich meine Emotionalität natürlich durch mein Spiel zeige, da muss man nicht mehr viel mit Worten erklären. Wir sind vielleicht nicht ganz so offen, nicht so gesellig, reden nicht so viel – aber das bedeutet nicht, dass man sein Gegenüber unsympathisch findet oder nicht reden möchte. Es dauert bei uns einfach ein bisschen, bis wir aufgetaut sind.
Wie stehen Sie als Wahlhamburgerin eigentlich zur Elbphilharmonie?
Ich freue mich auf die Elbphilharmonie und hoffe, dass es irgendwann so weit ist. Von außen sieht sie toll aus und ich denke, in dem Moment, wo sie fertig ist, wird sie das Hamburger Musikleben bereichern und die Hamburger werden wirklich stolz sein auf ihre Philharmonie. Dann wird auch das ganze Gerede um das Geld endlich vergessen sein.
Wie haben Sie denn auf die Verfielfachung der Baukosten im Laufe der Zeit reagiert?
Ich verstehe nicht, warum man nicht von Anfang an sagt, dass das Projekt so und so viel teurer wird. Aber ich verstehe sowieso vieles in der Politik nicht. Was zwischen den Baufirmen und der Politik schiefgelaufen ist, das ist ein Problem, welches die Musik gar nicht betrifft. Und man kann nicht sagen: Es geht um Kunst, also lohnt es sich nicht, zu investieren. Natürlich, es sind die Steuergelder. Aber ich zahle ja auch Steuern in Hamburg – und da denke ich, es gibt schlimmere Sachen, wofür die ausgegeben werden.