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Interview Bejun Mehta

„Ich will nicht zum Barockghetto gehören“

Bejun Mehta über seinen Stimmbruch, die Auswahl seiner Rollen und das Repertoire eines Countertenors

vonKlemens Hippel,

Bereits als Knabe startete Bejun Mehta eine internationale Karriere mit Konzerten und Plattenaufnahmen als Sopran. Nach dem Stimmbruch spielte der Amerikaner Cello, wurde Produzent bei einer Plattenfirma und versuchte sich als Bariton, ehe er seine Countertenor-Stimme entdeckte.

Herr Mehta, leiden Sie als Countertenor unter dem schmalen Repertoire? 

Bejun Mehta: Die Frage wird uns Countertenören immer gestellt. Aber wenn sie an Juan Diego Florez oder seine Kollegen denken – die haben ein genauso eingeschränktes Repertoire: Mit Rossini, Donizetti, dem Belcanto. Und keiner findet, dass das eng ist. Ich singe viel Mozart, Hasse, Traetta, Conti, Vivaldi, Gluck. Außerdem gebe ich viele Konzerte. Unser Repertoire ist eigentlich breiter, besonders wenn man die zeitgenössische Oper dazunimmt. Ganz zu schweigen von der Musik außerhalb der Oper. Das ist eine wunderbare Mischung. Ich will nicht immer dieselbe Art von Musik wiederholen. Das ist besser für die Stimme und auch für die Phantasie.

Sie werfen jetzt ein Licht auf die Zeit zwischen Barock und Klassik – von Hasse bis Mozart. Was ist für Sie das Interessante an dieser Epoche?

Mehta: Das war eine Zeit voller Experimente. Es geht ja nur um die Jahre von 1758 bis 1772, also eine sehr kurze Zeit. Die Komponisten haben damals gewagt herauszufinden, wie man Musik anders machen kann. Das kann man besonders bei Traetta hören. Man kennt ja Gluck als den großen Reformkomponisten, aber er war nicht der erste. Das zeigen wir mit diesem Programm.

Was unterscheidet diese Arien von denen früherer Opern? 

Mehta: Die Stücke sind nicht alle da-capo-Arien, deshalb spielen Verzierungen nicht so eine große Rolle. Die Arien sind länger und auch eine Herausforderung. Sie sind einfach größer. Davon abgesehen muss man immer mit einer guten Belcanto-Technik singen, das ist hier also nicht anders.

Wie gestalten Sie eine Figur in einer einzigen Arie?

Mehta: Mit den Figuren ist das so eine Sache auf CD. Ich denke da eher wie ein Liedsänger. Es gibt zwölf, dreizehn verschiedene Stimmungen auf der CD, und in die muss man sich versetzen. Das hat mit der Figur nicht so viel zu tun. Ich will eher eine bestimmte Art von Freude ausdrücken. Oder Trauer, Wahnsinn, was auch immer. Das ist die Idee.

Außer Glucks Orfeo ist aber nichts mehr diesen Opern im Repertoire geblieben. Tragen die nicht?

Mehta: Das ist eine gute Frage. Die Libretti sind oft ein Problem, die sind nicht so vollkommen wie in einer Händel-Oper. Aber die Antigona von Traetta zum Beispiel ist ein ganz tolles Stück, das haben wir auch schon gemacht. Ich glaube, die Zeit wird noch kommen.

Würden Sie denn so eine Oper auch mit einem modernen Orchester machen wollen?

Mehta: Damit hätte ich gar kein Problem. Ich bin da nicht so streng. Aber hier in Europa sind wir so gut mit Spezial-Ensembles ausgerüstet, da ist das Bedürfnis nicht so groß.

Hatten Sie schon als Kind eine Vorliebe für Barockmusik?

Mehta: Ich habe als Sängerknabe viel barocke Musik gesungen. Aber als Erwachsener bin ich ein viel besserer Barocksänger geworden. Dafür musste ich viel lernen. Besonders in Europa, wo alles ein bisschen tiefer und besser gemacht wird in der Barockoper. Und ich lerne immer noch.

Wie sehen Sie Ihre Stimme im Vergleich zu der des Knaben-Solisten?

Mehta: Ich finde, es ist dieselbe Stimme. Es ist meine natürliche Stimme, die ich damals hatte, und die ist einfach eine Quinte tiefer geworden. Natürlich bin ich geschickter geworden in ihrem Gebrauch durch die Erfahrung. Aber es ist dieselbe Stimme.

Trotzdem haben Sie nach dem Stimmbruch aufgehört zu singen. 

Mehta: Ich glaube heute, dass das ein Fehler war. Aber ich war ein Teenager, und keiner wusste etwas von Countertenören. Ich habe sieben Jahre nicht gesungen. Die Wahrheit ist: Der Verlust der Knabenstimme war ganz schmerzhaft für mich. Und ich war nicht bereit, mich damit zu beschäftigen und habe es weggeschoben. Und dann habe ich den zweiten Fehler gemacht, als Bariton anzufangen. Es ist mir absolut nicht gelungen, mehr als mittelmäßig zu klingen, und ich dachte: Du musst irgendwie damit klarkommen, dass kein musikalisches Leben vor dir liegt. Und dann habe ich die neue Stimme entdeckt.

Haben Sie mit Ihrer Erfahrung Verständnis für die Kastraten-Praxis?

Mehta: Heute wäre das pervers, damals war es einfach Sitte. Ich habe eigentlich keine Meinung dazu. Ich sehe mich nicht als Barocksänger. Ich will nicht zum Barockghetto gehören. Aber als ich klein war und Sopran gesungen habe, ist es mir tatsächlich mal passiert, das ein Mann in die Garderobe kam und sagte: Das war so wunderbar, wie ich nie etwas im Leben gehört habe, Du musst Dich sofort kastrieren lassen, um diese Stimme zu behalten. Kann man sich das vorstellen? Einem Dreizehnjährigen so etwas zu sagen?

Sie arbeiten regelmäßig mit René Jacobs – können Sie erklären, wie er es schafft, eine herausragende CD nach der anderen zu produzieren? 

Mehta: Das ist gar nicht nicht so kompliziert. Erstens ist er ein Genie, zweitens arbeitet er mehr und tiefer als viele andere. Er ist besessen von Forschung, Wissenschaft und Praxis. Das ist eine wundervolle Mischung. Er war selbst Sänger, ist Theatermensch und Wissenschaftler und kann diese Seiten zusammen bringen.

Ist man geschmeichelt, wenn man sein bevorzugter Countertenor ist?

Mehta: Das wird jetzt gesagt, aber für mich gehört das eher zur Welt der Werbung für unsere Platte. Ich beschäftige mich damit nicht so sehr, das wäre nur Druck für mich. Manche Menschen, die schöne Dinge über sich hören, gewinnen dadurch Gelassenheit oder innere Freiheit. Wenn ich dagegen gelobt werde, habe ich immer das Gefühl, noch besser sein zu müssen, noch mehr zu schaffen.

Wie wählen Sie Ihre Rollen aus?

Mehta: Mir geht es darum, immer auf höchstem Niveau arbeiten. Mit dem bestmöglichen Dirigenten, Regisseur, Orchester und Haus. Alles muss stimmen, damit eine Oper die Chance hat, wirklich gut zu sein. Das war immer meine Auffassung, und am Anfang hat das bedeutet: Wenn ich noch nicht bereit bin für Cesare, aber für Tolomeo, dann singe ich lieber die kleinere Partie, aber nicht in Neustrelitz oder Virginia, sondern an einem Ort wie Covent Garden. Nur wenn man mit den besten Kollegen arbeitet, kann man etwas lernen. Am Anfang war das manchmal schwierig, den Agenten zu sagen: Nein, ich will den Cesare nicht irgendwo singen. Sondern lieber etwas Kleineres mit erfahrenen Kollegen machen, um von ihnen zu lernen.

Können Sie beschreiben, wie Sie sich eine Partie aneignen?

Mehta: Mit dem Text fange ich an, ich lerne ihn auswendig. Dann binde ich ihn langsam an die Musik. Wenn man die Teile dann zusammenbringt, entdeckt man, dass sie eine große Einheit haben, die man nicht sehen kann, wenn man mit dem Stück anfängt. Und der letzte Schritt ist, die Einheit des Stückes mit einer leidenschaftlichen persönlichen Einsicht zu vereinigen. Aber das kann Jahre dauern. Das Lernen geht schnell, aber das Stück mit dem eigenen Wesen zu vereinen, dazu braucht es Zeit, Publikum Druck, Nervosität. Und erst nach vielen Vorstellungen schafft man so etwas.

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