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Blickwinkel: Cymin Samawatie – TONALi „Die Unvollendeten“

„Am besten, man kommt ohne Erwartungen“

Cymin Samawatie ist klassisch ausgebildete Musikerin, Jazz-Sängerin, Komponistin sowie Leiterin des Trickster Orchestra. Für das TONALi-Festival kuratiert sie zusammen mit dem Komponisten Ketan Bhatti die Kiez-Konzerte und das große Finale in der Elbphilharmonie.

vonSusanne Bánhidai,

Am 9. Juli kommt es während der TONALi-Festivals zu einem Mammut-Projekt in der Elbphilharmonie unter Ihrer Leitung. Wer macht mit?

Cymin Samawatie: Zwölf Teilnehmende der TONALi-Akademie haben mit zwölf Schulklassen sechs Konzerte entwickelt. Das TONALi-Orchester plus zweihundert Schülerinnen und Schüler kommen in einer gemeinsamen Aktion im großen Saal der Elbphilharmonie zusammen. Mit dabei sind auch Bewohnerinnen und Bewohner aus den Stadtteilen der Kiez-Konzerte – und Aurel Dawidiuk, der das Konzert dirigiert. 

Was war Ihre Aufgabe als Kuratoren?

Samawatie: Wir haben die Arbeit der Akademistinnen und Akademisten begleitet und sie darin unterstützt, selbstbewusst mit den Jugendlichen zu arbeiten. Außerdem lassen wir die ganz unterschiedlichen Ergebnisse dieser Arbeit, die Kiez-Konzerte, verschmelzen. Sie nehmen im Saal der Elbphilharmonie nochmal eine neue Gestalt an. So soll es sein, denn der Titel des Projektes verweist ja darauf, dass hier nichts Fertiges abgeliefert werden soll. 

„Die Unvollendeten“ lautet der Titel, inspiriert von Franz Schubert und seiner h-Moll-Sinfonie, die ein Fragment blieb. Was hat es damit auf sich?

Samawatie: Schubert war sich selbst vermutlich sehr bewusst, dass man nicht alles vollenden kann. Die vermeintliche Leerstelle am Schluss des Werkes lädt dazu ein, weiterzumachen, etwas Neues entstehen zu lassen, ohne es gleich vollenden zu wollen. Meine Aufgabe als Künstlerin ist es, die Tradition, die ich sehr gut kenne und schätze, ins Heute zu übersetzen. Der Gedanke, dass der Abend auch unvollendet bleibt, gefällt mir sehr. 

Das wird ja dann auch überraschend für das Publikum …

Samawatie: Am besten, man kommt ganz ohne Erwartungen, denn wir erkunden den Raum völlig neu und öffnen ihn. Der ganze Saal ist eine Bühne, auch das Publikum darf mitgehen und sich in die Musik hineinziehen lassen. Da wir nicht wochenlang mit so vielen Menschen in der Elphi proben konnten, wissen wir auch nicht genau, was passiert. Aber ich rechne mit der Macht des Tutti: Alle Kräfte auf der Bühne und im Zuschauerraum zu aktivieren, das Publikum zu inspirieren und zu berühren, ist unser Ziel. 

Was hat Sie in diesem Projekt inspiriert?

Samawatie: Die TONALi-Akademistinnen und -Akademisten. Es sind klassisch ausgebildete Musikerinnen und Musiker, die sehr neugierig sind. Sie wollen nicht dort stehenbleiben, wo das Studium aufhört, sondern neue Wege erforschen. Sie sind mutig und stellen sich vor eine Schulklasse, ohne es gelernt zu haben. Sie lassen sich ein auf das Unvollendete. 

Wie hat sich der Prozess mit den Schulklassen gestaltet?

Samawatie: Es war sehr schön zu sehen, wie Mädchen, die definitiv keinen musikalischen Background haben, stolz ein großes Orchester geleitet haben. Die Begeisterung ist sofort auf das Orchester übergesprungen. Das war magisch. Ich erinnere mich auch noch an ein paar Jungs, die sich darauf eingelassen hatten zu singen, obwohl es ihnen unangenehm war. Man darf Menschen auch mal in Räume schicken, in denen sie sich erstmal nicht wohlfühlen. Sie wagen etwas, lernen ihre Grenzen kennen oder ungeahnte Potenziale. Nicht alle diese Momente sind im Saal zu sehen, aber sie waren da und haben alle Akteure bereichert.  

Am Abend wird auch der TONALi Award „Mut zur Utopie“ an das Stegreif-Orchester verliehen. Das Trickster Orchestra ist selbst Preisträger. Was bedeutet Ihnen der Preis?

Samawatie: Wir sind ein freies zeitgenössisches Orchester und verbinden europäische und außereuropäische Musiktraditionen miteinander. Wir passen in keine Schublade. Mit dem Preis von TONALi würdigt man genau diesen Aspekt unserer künstlerischen Arbeit. Wir machen Musik, die anders arbeitet als man es aus den traditionellen Strukturen der sogenannten Klassik kennt. Es macht mich sehr glücklich, dass sich in unserer Gesellschaft etwas bewegt und mehr Vielfalt gelebt und gewürdigt wird! Das Stegreif-Orchester ist ebenfalls ein Beispiel dafür, dass Experimentierfreude, Improvisationskunst und das Unvollendete einen Platz haben. Die Klassikszene braucht diese Grenzgänger.

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