Startseite » Interviews » „Musik ist ein menschliches Grundbedürfnis“

Blickwinkel: Avri Levitan

„Musik ist ein menschliches Grundbedürfnis“

Vor zehn Jahren hat der aus Israel stammende Bratscher Avri Levitan das Ausbildungsprogramm Musethica ins Leben gerufen. Ein Interview über das Lernen von Bühnenerfahrung, Konzerten im Gefängnis und die Bedeutung von Musik.

vonJan-Hendrik Maier,

Welche Idee steht hinter Musethica?

Avri Levitan: Mit diesem Programm wollen wir talentierten jungen Musikerinnen und Musikern – begleitet von einer Tutorin oder einem Tutor – regelmäßige Auftritte ermöglichen, bei denen sie ihr eigenes Repertoire vor Publikum spielen. In den Curricula der Musikhochschulen gibt es keine Gelegenheit, echte Performance zu lernen, und die Klassenkonzerte sind oft nicht die schönsten Erfahrungen für junge Musiker. Unsere Konzerte finden zu 85 Prozent an Orten statt, an denen man zwar Musik braucht, es diese dort oft aber nicht gibt: in Gefängnissen, Psychiatrien, Frauenhäusern, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und so weiter. Musethica ist eine Ausbildungsmethode mit starker sozialer Wirkung. Die Gesellschaft bekommt hunderte kostenlose Konzerte auf hohem künstlerischem Niveau.

Wie laufen die einwöchigen Sessions ab?

Levitan: Ende August treffen sich am Freitag elf junge Musiker in Berlin und bereiten mit ihren Tutoren Alena Baeva, Roi Shiloah, Marc Coppey und mir übers Wochenende zwei Programme vor: das Mendelssohn-Oktett und Schönbergs „Verklärte Nacht“. Ab Montag spielen sie vormittags parallel Konzerte in Einrichtungen, nachmittags besprechen wir das gemeinsam in den Meisterklassen nach. Das geht vier Tage lang so, danach gibt es die öffentlichen Abschlusskonzerte. Insgesamt stehen 29 Konzerte in fünf Tagen auf dem Programm. Das ist eine soziale, künstlerische und menschliche Erfahrung für alle.

Worin unterscheiden sich Auftritte in Einrichtungen von solchen im Konzertsaal?

Levitan: Zunächst einmal spielen die Musiker dort ihr reguläres Programm, wie sie es auch in der Philharmonie performen würden. Als künstlerischer Leiter habe ich in zehn Jahren festgestellt, dass Menschen ohne klassische Musikausbildung spontaner, emotionaler und natürlicher reagieren. Die Künstler müssen unmittelbar mit der Musik überzeugen. Manchmal gibt es in Einrichtungen eine Stille, die wir im Konzertsaal fast vermissen, wenn man spürt, dass die Zuhörer zwischen den Noten beinahe ihren Atem anhalten und ganz in der Musik sind. Nach dem Konzert stellen sich die Musiker der sehr offenen Kritik des Publikums. Bisher haben etwa fünfhundert junge Musiker an Musethica teilgenommen, sie alle nehmen wunderbare Erfahrungen mit.

Zum Beispiel?

Levitan: Vor wenigen Wochen hat ein Ensemble das Schubert-Oktett im Gefängnis interpretiert. Ein Insasse hat nach dem Konzert die Cellistin gefragt, ob sie für ihn noch Bach spielen könnte. Sie hat sich hingesetzt und ein Präludium gespielt. Zwei Tage später hat sie ein Vorspiel bei einem großen Berliner Orchester gewonnen und uns geschrieben, sie habe sich dabei vorgestellt, sie würde im Gefängnis spielen, das habe ihr immens geholfen. Du spielst dort mit totaler Freiheit und dem Interesse, Musik zu vermitteln. Dadurch hast du deinen Puls im Griff, deine Intonation, Phrasierung und Dynamik sind besser. Andere Teilnehmer haben mir erzählt, sie hätten von den Kindern in einer Einrichtung gelernt, wie man richtig sforzando, forte oder piano spielt, denn die Kinder wollten diesen Effekt spüren und verstehen. Im Konzerthaus ist das seltener der Fall.

Wie wichtig ist es, klassische Musik an ungewöhnlichen Orten und für Menschen zu spielen, die mit ihr nur selten in Kontakt kommen?

Levitan: Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass Musik unser Gehirn positiv beeinflusst. Ich sehe unsere Auftritte nicht als Entertainment, sondern als Antwort auf das humanistische Bedürfnis aller, Musik live zu erfahren. Wir missionieren nicht, sondern wir musizieren! Gleichwohl fordert Klassik durch ihre Formen und ihren Reichtum an kleinsten Details die Aufmerksamkeit der Zuhörer im Hier und Jetzt. Sie lebt von dieser Erfahrung, und das ist ein Geschenk. Ich begreife das als ein Must-have für eine gesunde Gesellschaft!

Avri Levitan gibt als Tutor regelmäßig sein Wissen an junge Musikerinnen und Musiker weiter
Avri Levitan gibt als Tutor regelmäßig sein Wissen an junge Musikerinnen und Musiker weiter

Am ersten September-Wochenende spielen Musethica-Teilnehmer zum Abschluss der Session beim internationalen Kammermusikfestival in der Berliner St. Elisabeth-Kirche.

Levitan: Wir präsentieren unter anderem die Oktette von Mendelssohn und Bruch, letzteres wird nicht so häufig gespielt. Dazu Brahms’ erstes Sextett und Schönbergs „Verklärte Nacht“. Das Publikum kann hier erfahren, wie viel Begeisterung in den Musikern nach einer so intensiven Woche steckt!

Musethica ist mittlerweile in zwölf Ländern aktiv. Vor zehn Jahren haben Sie das Programm mit der Professorin für Social Economy, Carmen Marcuello, ins Leben gerufen.

Levitan: Ich war damals Professor in Saragossa und hatte das Gefühl, dass allein der Unterricht an der Uni für meine Studenten nicht ausreicht. Sie müssten regelmäßig vor Menschen außerhalb des Kosmos Musikhochschule spielen. Carmen Marcuello fand die Idee spannend und hat die Kontakte zu sozialen Einrichtungen in Spanien organisiert. Der Versuch mit fünf, sechs Studenten war so erfolgreich, dass wir das auf eine breitere Basis stellen wollten. Performance lässt sich nur auf der Bühne lernen. Der Erfolg von Musethica besteht darin, dass die jungen Musiker von sich aus daran teilnehmen wollen.

Sie partizipieren auch selbst als Tutor am Programm. Was nehmen Sie aus den Sessions mit?

Levitan: Das hört sich jetzt wie ein Klischee an, aber ich lerne jeden Tag von den Nachwuchsmusikern, was man auf der Bühne noch besser machen kann und wie sich die individuelle Arbeit mit ihnen noch fruchtvoller gestalten lässt. Ich habe heute Morgen mit Eckart Runge telefoniert, der auch Tutor bei uns ist, und er bestätigt das: Wir haben zwar mehr Erfahrung, aber sind jahrelang noch mit Fehlern aufgetreten, die der Nachwuchs schon jetzt nicht mehr macht. Musethica ist für alle Musiker eine altruistische Erfahrung. Die Dankbarkeit des Publikums nach den Konzerten ist groß, aber eigentlich müssten wir uns bedanken, dass wir für sie auftreten dürfen, denn sie machen uns den Sinn unserer Arbeit bewusst: Musik ist ein menschliches Grundbedürfnis, ein Gespräch mit der eigenen Seele und eine notwendige Gruppenerfahrung.

Was wünschen Sie sich für das nächste Jahrzehnt Musethica?

Levitan: Die ersten zehn Jahre Musethica haben gezeigt, wie groß der Bedarf an erlebbarer Musik in der Gesellschaft ist: Viele Einrichtungen wollen, dass wir wiederkommen. Es gibt genug Publikum auf dieser Erde für klassische Musik, das muss vielleicht nur anders organisiert werden. Ich wünsche mir, dass dieses Ausbildungsprogramm offizieller Teil des Musikstudiums, von Festivals und Orchesterakademien wird. Die Universität für Musik und Darstellende Künste Wien, an der ich unterrichte, hat Musethica bereits in ihr Curriculum aufgenommen.

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!