Sie gehört zu den ausgewiesenen Expertinnen für Opernstimmen, verantwortete die Besetzungen für Gerard Mortiers Intendanzen bei den Salzburger Festspielen wie der Ruhrtriennale, sitzt weltweit in Jurys von Gesangswettbewerben, gilt als Trüffelschwein für Talente. Eva Maria Wieser liegt der Nachwuchs am Herzen. Ebendieser sängerische Nachwuchs aber hat es derzeit so schwer wie kaum je zuvor. Wieser weiß Rat in düsteren Zeiten, gibt Tipps, wie man die Krise als Chance nutzen kann – und wartet dennoch mit manch bitteren Wahrheiten auf.
Der jungen Sängergeneration fehlt gerade fast alles: Engagements, Verträge, Vorsingen, eine Perspektive. Was raten Sie dem zur Untätigkeit verdammten Nachwuchs der Opernhäuser?
Eva Maria Wieser: Geduld und Glück sind nun besonders gefragt. Ich sage den jungen Leuten gern: Nutzt die Zeit, weiter zu lernen und zu studieren. Das betrifft die Technik, das Rollenstudium wie die Vorbereitung von Arien für Vorsingen. Hilfreich kann es auch sein, sich die auf Youtube verfügbaren Meisterkurse anzusehen. Ganz besonders aber empfehle ich, Fremdsprachen zu lernen. Englisch ist zwar die Umgangssprache gerade auch im Theater, aber gar nicht das allein Entscheidende. Italienisch sollten Sänger möglichst fließend beherrschen. Je mehr Sprachen er oder sie beherrscht, desto besser.
Apropos Meisterkurse. Der Wettbewerb „Neue Stimmen“ der Bertelsmann Stiftung, dessen Jury Sie angehören, hat gerade eine solche Fortbildung allein über digitale Kanäle durchgeführt. Welche Unterstützung ist auf diesen Wegen überhaupt möglich? Wo liegen die Grenzen?
Wieser: Ich beobachtete eine Klasse mit Bernarda Fink. Die junge Sängerkollegin brachte dazu einen vorab eingespielten Klavierpart mit, auf den sie dann live gesungen hat. Immerhin konnten die Dozentin und ich dabei auch die Klavierbegleitung hören. Aber Fragen der Interpretation sind bei einem absolut unbeweglichen Klavierpart schwer zu erörtern. Man kann Aussprache oder Dynamik vermitteln, aber für weiterführende Fragen sollten sich zumindest Sänger und Pianist am selben Ort befinden.
Wo sehen Sie auch Vorteile?
Wieser: Onlineunterricht kann ja nur ein Ersatz für die nicht mögliche persönliche Begegnung sein. Die Motivation aber ist durch diese Ausnahmesituation in der Tat größer. Die Konzentration ist stärker. Die jungen Leute versuchen das wirklich Maximale für sich herauszuholen. Wenn man sich bestimmter Einschränkungen bewusst ist, eröffnen sich sehr gute Möglichkeiten der gemeinsamen Arbeit. Und die liegen dann durchaus auch in anderen Bereichen. Ich selbst habe beispielsweise eine ganze Stunde über Vorsingen referiert. Wie bereitet man sich bestmöglich darauf vor? Was sind die Kriterien? Wie stellt man den Kontakt zu den Zuhörenden her? Aus meinen Fragen hat sich dann eine ganz tolle Diskussion ergeben. Christiane Karg wiederum hat die Teilnehmenden gefragt, in welcher Rolle sie sich derzeit am besten sehen würden. Sie wollte herausfinden: Wo liegt deine maximale Stärke? Und warum? Andere Ansätze von Kursen betrafen das Self-Management und Self-Marketing: Wie sollte die eigene Website aussehen? Dabei betone ich gern eine sehr spezielle Warnung: Passt bloß auf, was von euch auf Youtube zu finden ist. Denn viel zu viele Leute schauen da rein und entdecken darin viel zu viel Fragwürdiges. Insofern gilt es, all das zu löschen, was einen nicht in der Qualität zeigt, die man gern vermitteln würde. Darüber hinaus liegt die Stärke des Digitalen in der Vermittlung von Kompetenzen, die Lehrende selbst gut vormachen können, etwa Aspekte der Body Awareness.
Wenn Sie all diese überaus relevanten, im Rahmen des Meisterkurses bedachten Fragen ansprechen: Ist der Erkenntnisgewinn dadurch nicht viel bedeutsamer als der Marktplatz eines Wettbewerbs, von dem ja nur sehr wenige wirklich profitieren?
Wieser: Aus meiner Sicht gibt es auf dieser Welt viel zu viele Wettbewerbe. Das sind hunderte, von denen ich vielfach nicht mal den Namen kenne, diesen dann aber mitunter in den Biografien der jungen Künstler erstmals lese. Aber Wettbewerbe sind nicht zuletzt wichtig dafür, potentielle Teilnehmer für Meisterkurse zu finden, denen ein solcher dann gezielt weiterhelfen kann. Ein Meisterkurs ist letztlich Teil einer Ausbildung. Ein Wettbewerb dient dazu, den eigenen Namen bekannter zu machen. Aber da ja nicht jede junge Sängerin oder jeder junge Sänger Preisträger werden kann, gibt es diese Brücke des Meisterkurses, über die unsere Künstler sich entwickeln und in Kontakt mit uns bleiben können. Er sichert Kontinuität, längerfristige Betreuung. Diesen im besten Sinne nachhaltigen Ansatz sehe ich bei Bertelsmann und den „Neuen Stimmen“ exemplarisch verwirklicht.
Entsteht also aus diesen längerfristigen Kontakten zwischen Meistern und Schülern mitunter auch ein echtes Mentorenverhältnis?
Wieser: Auf jeden Fall! Vielen bedeutenden Sängern, die auch ein pädagogisches Faible haben, ist es ein echtes Anliegen, ihr Wissen weiterzugeben. Da kommt es schon mal vor, dass eine junge Sängerin nach dem Meisterkurs drei Tage zu ihrer Meisterin fahren darf, um gratis Unterricht zu erhalten. Es gibt hier viel Empathie und viel Enthusiasmus. Wenn wir eine große Begabung entdecken, dabei freilich auch die noch vorhandenen Defizite sehen, dann wollen wir helfen. Junge Künstler sind Suchende, die heutzutage durchaus auch jenseits ihrer Lehrenden, bei denen sie an den Hochschulen studieren, zusätzliche Hilfe und Inspiration finden.
Wie ist Ihre persönliche Motivationslage als Talentscout? Sie fällen an den größten Häusern und Festspielen Besetzungsentscheidungen…
Wieser: Die jungen Talente des Young Singers‘ Project der Salzburger Festspiele habe ich in den diversen Jahrgängen alle selbst mit ausgesucht. Ich glaube an sie. Einige von ihnen sind dann in der Tat so gut, dass sie später ihren Platz im Hauptprogramm der Festspiele und damit ein Engagement finden. Das Modell des Opernstudios, das wir mittlerweile an den meisten großen Häusern finden, praktizieren also auch wir durchaus mit Erfolg selbst.
Aber sind Opernstudios nicht oft nur mehr Feigenblätter des Pädagogischen, mit denen man eigentlich Gagen einsparen möchte?
Wieser: Jein. In Zeiten immer engerer Budgetgrenzen der Opernhäuser mag die wirtschaftliche Seite in den letzten Jahren mehr in den Vordergrund getreten sein. Wir haben unser Young Singers‘ Project unter der Intendanz von Jürgen Flimm damals allerdings als reines Education-Programm begonnen. Flimm hat es geradezu verboten, dass die Leute jenseits des Abschlusskonzerts des Projekts auftraten. Aber die jungen Sängerinnen und Sänger wollen gefordert werden, sie suchen doch ihre große Chance. Da treffen sich also die Wünsche der jungen Leute und jene des Theaters. Allerdings ist die Balance zwischen Erziehungsauftrag und Bühneneinsatz unabdingbar zu halten.
Sehen Sie in diesen Zeiten der Pandemie nicht allerdings auch eine Verschärfung des Konkurrenzdrucks unter dem künstlerischen Nachwuchs, gleichsam eine darwinistische Tendenz zum „Survival of the Fittest“?
Wieser: Die Gefahr eines Staus der jungen Sänger sehe ich sogar sehr. Denn es drängen ja dann nach dem Ende der Pandemie doppelt so viele Absolventen auf den Markt wie üblich. Es wird dann folglich nicht nur eine Frage des Könnens sein, wer sich durchsetzt. Man muss wirklich zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, die Entscheider müssen wirklich Stimme und Persönlichkeit mögen, schließlich zählt ja heute das Gesamtpaket – von der Stimme bis hin zum Aussehen. Ich fürchte, dass in den nächsten Spielzeiten deutlich mehr Menschen nicht durchkommen werden als unter früheren Bedingungen. So entstehen dann aus ökonomischen Zwängen womöglich auch falsche eigene Entscheidungen in der Akzeptanz von Rollen, die nicht wirklich zu einem passen.
Sehen Sie auf Seiten der Intendanten und Casting-Direktoren eine wachsende Verantwortung und Bedeutung von Ethik im Hinblick auf Besetzungsentscheidungen?
Wieser: Wir haben hier zum Glück noch keine amerikanischen Verhältnisse. Aber es hilft niemandem, wenn er oder sie aus Mitleid engagiert wird. Ich neige dazu, harte Wahrheiten auszusprechen und im Zweifel auch einmal die Empfehlung nach einem anderen Beruf auszusprechen, um nicht wertvolle Jahre zu verlieren. Wenn jemand den Erwartungen nicht entspricht, muss man ehrlich sein, was natürlich kaum gut ankommt. Doch wenn man eine Sängerkarriere anstrebt, dann muss man auch einstecken können und gerechtfertigte Kritik aushalten.