Herr Piening, welchen Mehrwert bietet der AMJ seinen Mitgliedern gegenüber anderen Chorverbänden?
Hannes Piening: Wir haben Kinder- und Jugendchöre als Mitglieder, aber auch Erwachsenenchöre, Einzelpersonen und Familien und sind somit kein reiner Chorverband. Auch wenn es uns primär um das Singen geht, hat bei uns das soziale Miteinander, die persönliche Begegnung einen hohen Stellenwert. Daraus entwickeln sich Traditionen wie die Familienmusikfreizeiten, die schon 30 oder 40 Jahre lang stattfinden und zu unseren wichtigsten Angeboten zählen.
Welche Entwicklung beobachten Sie beim familiären Musizieren? Und wie geht der AMJ mit dieser Entwicklung um?
Piening: Wir bringen bis zu drei Generationen in unseren Freizeiten zusammen, deren Grundsäulen Chorgesang, Orchestermusik und Tanz sind. Die etablierten Angebote laufen sehr gut, weil die Familien immer wieder daran teilnehmen. Mit neu entwickelten Familienmusikfreizeiten haben wir es dagegen schwer, weil das Musizieren in der Familie einen weniger großen Stellenwert hat als früher. Wir finden es aber sehr wichtig, dass man als Familie musikalisch anderen Menschen begegnen kann. Daher stellt sich die Frage, wie wir diese gute Grundidee mit den neuzeitlichen familiären Realitäten in Einklang bringen können.
Muss man dazu nicht schon im Kleinkindalter mit musikalischer Erziehung anfangen?
Piening: Deshalb bringen die Familien ihre Kinder bei uns schon in den ersten Lebensjahren mit. In Kleingruppen wird dann nicht nur musiziert, sondern zum Beispiel auch gebastelt. Wichtig ist, dass die Kinder im musikalischen Alltag immer mit dabei und Teil dieser großen musikalischen Familie sind.
Sie erwähnten den Aspekt der Begegnung. Welchen Schaden hat Corona hier angerichtet?
Piening: Wir kümmern und vor allem um Kinder- und Jugendchöre. Da haben die Corona-Beschränkungen deutlichen Schaden hinterlassen. Im quantitativen Bereich: Es gibt Mitgliederschwund. Aber auch im qualitativen Bereich, also in der Arbeit mit der Stimme. Gleichzeitig sehen wir aber eine ganz große Begeisterung, eine Lust und einen Hunger nach Begegnung und dem gemeinsamen Singen. Kinder und Jugendliche finden einen viel schnelleren Zugang zum Musizieren, als es vor Corona der Fall war. Auch aufseiten der Chorleitungen spürt man die große Lust und Notwendigkeit, wieder etwas zu tun. Das wird besonders deutlich im Rahmen unseres „Aufholpakets Kulturelle Bildung“, das wir über Mittel von „Neustart Kultur“ haben durchführen können.
Laut Vereinssatzung ist das Ziel des AMJ auch die Förderung und Pflege der Instrumentalmusik. Die Mitglieder sind aber überwiegend Chöre. Gibt es eine (vielleicht historische) Erklärung dieses Ungleichgewichts?
Piening: Die Gründung des AMJ geht auf die Jugendmusikbewegung zurück, die neben dem Singen und der Instrumentalmusik auch den Tanz und das darstellende Spiel – darunter auch das Puppenspiel – mit einbezogen hat. Das Singen, besonders das offene Singen, war aber immer zentrales Element, zum Beispiel auch bei den Gitarren- oder Lautenkursen. Ein Grund, weshalb wir so gut durch die Corona-Zeit gekommen sind, liegt aber auch in unserer vielfältigen Aufstellung.
Stichwort: Vielfältigkeit. Wie begegnet der AMJ den Herausforderungen der multikulturellen Gesellschaft, in der wir leben?
Piening: Die Herausforderungen sind groß, aber wir betrachten sie auch als Chance. Bei unserem großen Jugendchorfestival auf Usedom und dem internationalen Kinder- und Jugendchorfestival „Eurotreff“ in Wolfenbüttel treffen Menschen aus vielen Kulturen zusammen, die sich nach kürzester Zeit alle miteinander verstehen und Lust haben, gemeinsam zu agieren. Nach dem Krieg, den Putin angezettelt hat, sind die vielen russischen und weißrussischen Kinder- und Jugendchöre allerdings nicht mehr mit dabei. Das ist bitter. Auch angesichts der türkischen Invasion in Syrien und im Nord-Irak stellt sich die Frage, wie wir jugendliche Kulturen im Rahmen einer demokratischen Friedensarbeit wieder zusammenführen können.