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Blickwinkel: Irene Suchy

„Wir brauchen endlich ein Monitoring“

Musikwissenschaftlerin und Journalistin Irene Suchy leitet seit 2018 die Plattform MusicaFemina in Österreich und setzt sich leidenschaftlich für eine Genderbalance in der klassischen Musik ein.

vonIrem Çatı,

Wie wichtig ist die Rolle von MusicaFemina in der Musiklandschaft?

Irene Suchy: MusicaFemina ist eine künstlerische und wissenschaftliche Initiative, die sich mit dem Schaffen von Komponistinnen auseinandersetzt. Sie steht auf einem gemeinnützigen Verein www.maezenatentum.at. Wir werden vor allem in Österreich immer mehr wahrgenommen – vor allem seit dem Creative Europe Programme zur Förderung der europäischen Kultur- und Kreativwirtschaft. Seitdem die EU die Genderthematik in den Kulturprojekten als prioritär eingestuft hat, hat das unser Image bei den nationalen, regionalen, städtischen und sozialen Behörden in Österreich wirklich gehoben. Im Mainstream sind wir zwar immer noch nicht angekommen, dennoch sehe ich schon viel mehr Wille zu einer Genderbalance im Musikleben.

Wir möchten erreichen, dass das Musikschaffen von Frauen der Gegenwart und der Vergangenheit sichtbarer wird. Das hat sich beim Rostrum of Composers gezeigt, einem Forum des Internationalen Musikrates der UNESCO in Paris, wo sich Rundfunkanstalten über zeitgenössische Musik austauschen. Diese Plattform besteht seit 65 Jahren, und in dieser Zeit haben Werke von Komponistinnen, die dort vorgestellt wurden, gerade einmal sieben Prozent ausgemacht. Jetzt brauchte es eine Pandemie, dass man in diesem Jahr darauf kommt, ausschließlich Stücke von Komponistinnen vorzustellen. Und da werde ich häufig herangezogen, so dass sich die Arbeit der Europäischen Rundfunkunion und meine eigene Radiotätigkeit gegenseitig befruchten und bestärken.

Hat diese Bekanntheit dazu beigetragen, dass sich im Konzertleben etwas verändert hat?

Suchy: Die Projekte und Ausstellungen, die wir seit 2018 verfolgen, haben schon zu einer großen Sichtbarkeit geführt. Aber wir brauchen ein Monitoring, das kontinuierlich und alljährlich erfasst, was im Musikleben und in den Konzertsälen läuft. Denn verlieren wir nicht Talente, weil wir Männern zu kritiklos den Vorzug geben? Verlieren wir dadurch nicht sogar an Qualität? Einen solchen Qualitätsanspruch haben wir bei MusicaFemina. Es geht nicht darum, dass jede Frau, die irgendwelche Musik macht, bei uns auftritt und eingeladen wird. Ich behalte mir vor, auch meinen eigenen Qualitätsanspruch zu haben. Spannend zu sehen: die aktuelle Forderung nach einer Genderbalance führt automatisch zu einer Diskussion über Qualität, und eigentlich kann uns nichts Besseres passieren. Ich denke, Werke von Frauen in das Konzertleben zu integrieren kann nur zu einer Qualitätserhöhung führen. Allein schon, weil man mit Frauen viel härter ins Gericht geht.

Wie verfolgen Sie Ihre Ziele?

Suchy: Wir haben eigene Sendungen in Radio und Fernsehen. Außerdem veranstalten wir immer wieder Ausstellungen wie am 1. September „NS-verfemte Komponistinnen“ im Bezirksmusuem Leopoldstadt, in der wir uns mit in der NS-Zeit verfemten, deportierten, exilierten und vernichteten weiblichen Musikschaffenden beschäftigen. Es ist enorm, wie viele es gibt – viel mehr, als wir gedacht haben. Wir schauen dafür zunächst in die Wiener Archive und gucken, wo dort Komponistinnen vertreten sind. Welche Nachlässe von Komponistinnen, welche Drucke, Autografen, Briefe gibt es in der Musiksammlung der Wienbibliothek? Diesen Fragen gehen wir nach.

Oder der Frage nach den weit über 100 Schönberg Schülerinnen. Wer führt sie auf? Wo sind ihre Partituren? Glücklicherweise gibt es eine Schönberg-Forscherin, Elisabeth Kappel, die jahrelang an dieser Arbeit geforscht hat. An und für sich ist das Material da, aber man muss es sichten und analysieren. Sie hat mir gegenüber auch bestätigt, dass Schönberg selbst eine unglaubliche Abschätzigkeit gegenüber Frauen gezeigt hat, die von – das müssen wir leider aus der musikwissenschaftlichen Ignoranz schließen – von männlichen Forschern in Deutschland und Österreich übernommen wurde.

Apropos Abschätzigkeit: Wir haben in den Archiven der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) Aussagen von renommierten Musikwissenschaftlern gelesen: Er hat Kolleginnen als Nymphen bezeichnet. Und von Stefan Zweig wissen wir ja, was dieses Wort bedeutet, Huren! Vor allem in den 1950er Jahren gab es zahlreiche Komponistinnen, die aus der IGNM ausgetreten sind, weil sie genug von der Diskriminierung hatten. Es geht also nicht nur um die NS-Zeit. Die Diskriminierung von Frauen gab es schon vorher und auch danach. Frauen stehen im Musikleben ganz hinten. Die Literatur, die bildende Kunst und sogar die Architektur sind da schon viel weiter!

Wie ist denn die Lage von Komponistinnen heutzutage?

Suchy: Um diese Frage zu beantworten braucht es endlich ein Monitoring! Es gibt zwar viele Studien, aber das reicht nicht. Wo stehen Komponistinnen in der Forschung? Welche Studiengänge beschäftigen sich mit ihnen? Welche Werke werden in Konzerten gespielt und welche sind in Schulbüchern vertreten? Zu sagen, dass heute ohnehin schon vieles besser läuft, ist mir zuwider, denn ich merke nicht viel davon. Dabei könnten Musikwissenschaftler und Musikwissenschaftlerinnen sowie Verleger und Verlegerinnen eine wunderbare Wertschätzungskette kreieren, in der Werke von Komponistinnen verbreitet werden und diese dafür ihre gerechten Tantiemen bekommen. Aber ich denke, es wird nicht gehen ohne eine gesetzlich verankerte Forderung.

Also eine Komponistinnenquote?

Suchy: Ja. Das Verhältnis kann diskutiert werden, de facto haben wir ja jetzt eine Männer-Quote, ungefähr 100 Prozent.

Die aktuelle Studie des Musikinformationszentrums (MIZ) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Musikrat zeigt: Bei Musikerinnen sieht es nicht unbedingt anders aus. Vor allem in Orchestern gilt: je besser bezahlt die Posten sind, desto weniger von Frauen gehalten.

Suchy: Da muss, wie gesagt, einfach eine Quote her. In Deutschland gibt es ja schon die Deutsche Orchestervereinigung (DOV), das ist eine großartige Sache. Sowas haben wir in Österreich leider nicht. Aber Frauen müssen in Führungspositionen kommen, und wenn es öffentlich bewilligte Aufsichtsräte gibt, muss die Hälfte mit Frauen besetzt werden. In Österreich ist man in dieser Hinsicht beim Film weiter als in der Musik.

Musicafemina München hat eine Untersuchung durchgeführt, die gezeigt hat, dass nur acht Prozent der GMD- und Intendantenstellen von Frauen besetzt sind. Nicht einmal zwei Prozent der aufgeführten Musik in Abonnement-Reihen stammt von Frauen.

Suchy: Die Studie ist großartig! Wie immer ist uns Skandinavien weit voraus. Gerade jetzt haben wir eine große Chance: Für lange Zeit werden die Konzertsäle nur maximal zur Hälfte gefüllt sein. Jetzt können wir endlich für das Publikum programmieren, das kommt, und das wird sich auch für ein Programm abseits der Hits interessieren. Endlich haben wir die Chance, mit diesem Quotendenken, mit dieser Auslastungstyrannei aufzuhören. Ist Auslastung Qualität? Können wir nicht endlich darüber nachdenken, was Qualität ist? Wir können da jetzt einen ganz neuen Kulturkreislauf schaffen. Machen wir doch endlich mal was Neues, denn es geht ja jetzt, so gut wie nie zuvor!

„Die Zukunft der Orchester wird mehrheitlich weiblich sein“, sagt DOV-Chef Gerald Mertens. Der Anteil von Frauen in Orchestern zumindest wächst. Wie ist Ihre Sicht auf die Zukunft, was Komponistinnen betrifft?

Suchy: Die Integration von Komponistinnen wird zu einer Vielfalt im Musikleben und auch zu einer thematischen Erneuerung führen. Frauen haben andere Bedürfnisse, andere Zyklen, andere Themen, andere Empfindungen als Männer. Wenn man mehr Komponistinnen im Konzertleben zulässt, könnte sich da eine schöne Verschiebung und Bereicherung ergeben. Aber das braucht Zeit, Vereine, Studien und Forschung. Ich fordere da ein Studium, mit dem man sich als Musiker und Musikerin sowie Musikwissenschaftler und Musikwissenschaftlerin pflichtmäßig beschäftigen muss.

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