Herr Hendriks, im September haben Sie einen Spielplan für die erste Saisonhälfte 2020/2021 vorgelegt. Nun gibt es einen weiteren Lockdown. Wie ist derzeit die Stimmung am Württembergischen Staatstheater?
Marc-Oliver Hendriks: Wir sind seit März einiges gewohnt an zusätzlicher Flexibilität, die man aufbringen muss. Alle haben zwar damit gerechnet, dass ein zweiter Lockdown kommen könnte. Dann aber kurzfristig in wenigen Tagen von einer Besucherzahl von maximal 500 wieder auf null zu gehen, hat uns sehr überrascht. Wir versuchen, uns mit der Situation konstruktiv auseinanderzusetzen. Aber wenn Sie nach der Stimmung im Haus fragen: Künstler sein, ist ja kein Beruf, sondern eine Lebensform. Künstler müssen arbeiten können, miteinander und vor dem Publikum. Wenn das nicht gegeben ist, gibt es eine psychisch ungesunde Gesamtsituation. Je länger sie dauert, desto belastender ist sie für die einzelnen Akteure.
Was sind Ihre größten Herausforderungen als Intendant in dieser Zeit?
Hendriks: Meine Aufgabe als Intendant ist es, auf der einen Seite zu verhindern, dass eine allgemeine Depression um sich greift, und auf der anderen Seite, dass man zu aktionistisch die Hoffnung Looping fahren lässt, indem man simuliert, übermorgen könnte das alles schon vorbei sein. Betriebswirtschaftlich besteht die Aufgabe, aus dieser Zeit ohne schwere Schäden herauszukommen, damit die Theater auch weiterarbeiten können, nachdem ein Impfstoff gefunden wurde. Wir sind da natürlich privilegiert gegenüber anderen Staaten wie den USA und auch gegenüber den freischaffenden Künstlern, die zurzeit ohne Beschäftigung und Verdienstmöglichkeiten sind. Es könnte also alles noch viel grausamer sein, als es für so ein großes Staatstheater wie unseres jetzt schon ist.
Welche finanziellen Verluste sind bisher durch Corona aufgelaufen und auf welche Hilfen können die Staatstheater Stuttgart zählen?
Hendriks: Unsere Einnahmeverluste liegen bei weit über 13 Millionen Euro. Diese Verluste kompensieren wir durch die Organisation von Kurzarbeit, so wie viele andere kommunale Theater auch.
Finden Sie die Entscheidung richtig, den Kulturbetrieb erneut herunterzufahren?
Hendriks: Wenn man politisch beschließt, die Schulen und Wirtschaftsbetriebe offen zu halten, zugleich aber die Kontakte zu reduzieren, muss eine Opportunitätsentscheidung getroffen werden. Wir haben viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Lockdown mit dem Homeschooling und dem Homeoffice an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gekommen sind. Kinder haben einen Anspruch auf Bildung. Wir dürfen jetzt keine verlorenen Jahrgänge produzieren. Die Kultur befindet sich also quasi in einer Aufopferung für den Bildungsbereich und die Schulen. Wenn man das so kommuniziert, ist das immer noch hart, aber man kann es nachvollziehen und akzeptieren.
Aber handelt es sich dabei um ein sinnvolles Opfer? Die Theater haben ja ausgeklügelte Hygiene- und Sicherheitskonzepte erarbeitet, die von staatlicher Seite abgesegnet wurden. Wie glaubwürdig ist eine Politik, die wenige Wochen später zurückrudert und sagt, das Ganze ist uns nun doch nicht sicher genug?
Hendriks: Die Argumentation der Regierenden in Baden-Württemberg lautet: Eure Hygiene- und Sicherheitskonzepte waren sinnvoll und werden es auch in Zukunft sein. Wir müssen aber die Bewegungen der Menschen im öffentlichen Raum reduzieren. Wenn sie bei euch im Saal sitzen, ist alles in Ordnung, aber sie müssen ja erst mal aus der Wohnung ins Theater und später wieder zurück nach Hause gelangen. Das ist eine klare Ansage. Dadurch entsteht auch nicht der Eindruck, es seien die Theater, die hier möglicherweise die Treiber in der Pandemie sind – das sind sie nämlich nicht. Die gesellschaftspolitische Frage, ob wir überhaupt die richtige Strategie haben, ob man den Sommer richtig genutzt hat, um sich auf den Herbst und Winter vorzubereiten, wird ja inzwischen nicht nur in den Feuilletons diskutiert, sondern im politischen Raum allgemein. Ich finde es gut, dass solch eine öffentliche Diskussion stattfindet und man nicht nur mit der Ansage der Alternativlosigkeit operiert, weil das für eine Demokratie nicht gut ist.
Und selbst wenn die Konzertsäle und Opernhäuser in dieser Zeit ihren Spielbetrieb fortführen würden, würden die Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht trotzdem zu Hause bleiben? Wie haben Sie das Publikumsverhalten zurzeit der beschränkten Wiedereröffnung wahrgenommen?
Hendriks: Ich habe von einigen anderen Konzertsälen gehört, dass sie Schwierigkeiten hatten, ihre reduzierten Kartenkontingente abzusetzen. Das kann ich aus der Stuttgarter Perspektive überhaupt nicht bestätigen. Wir gehen am Montag in den Kartenvorverkauf, und am Dienstagvormittag ist bis auf wenige Restkarten alles ausverkauft. Unser Besucherservice und Kartenverkauf beschäftigt sich momentan vor allem mit dem Claim Management, also mit jenen Bucherinnen und Besuchern, die keine Karte bekommen haben und sich deshalb mit Beschwerden an uns wenden.
Wann rechnen Sie mit einer Normalisierung des Spielbetriebs?
Hendriks: Wir haben zuletzt in Baden-Württemberg mit einer Obergrenze von 500 Besucherinnen und Besuchern gearbeitet. Unter Berücksichtigung der Sicherheitsabstände von 1,50 Meter von Platz zu Platz, bedeutet das ein Viertel der üblichen Kapazität. Jetzt stellt sich die Frage: Wie lange dauert die Unterbrechung? Bleibt es bei einer Unterbrechung? Und mit welchen Rahmenbedingungen arbeiten wir? Es macht wenig Sinn, in einem großen Opernhaus vor 50 oder 100 Menschen zu spielen. Wir wissen aber nicht, wann wir wieder so stabile Verhältnisse haben, dass wir 300 bis 500 oder im Rahmen eines Schachbrettprinzips sogar mehr Besucherinnen und Besucher ins Haus lassen können. Dann lohnt es sich auch wieder zu spielen. Man braucht aber eine Perspektive, die nicht immer wieder eine Schließung des Hauses wegen der pandemischen Entwicklung befürchten lässt. Durch einen möglichen Impfstoff im Frühjahr und entsprechende Medikationsmöglichkeiten hoffe ich auf eine weitestgehend wieder normalisierte Spielzeit 2021/2022.