Wann haben Sie denn Ihre beiden Chöre zum letzten Mal in voller Stärke getroffen?
Matthias Grünert: Am 8. März. Das war ein Gottesdienst, den der große Chor noch fast in seiner Gesamtheit ausgestaltet hat. Ich hatte damals ein beklommenes Gefühl, denn es war zu dem Zeitpunkt absehbar, dass es dann zum Lockdown kommt. Irgendwie habe ich mir schon gedacht, dass wir uns dieser Besetzung lange nicht mehr sehen würden. Der Kammerchor kam zuletzt am 12. Juli in voller Stärke zusammen. Da haben wir doppelchörige Bach-Motetten von beiden Sängeremporen aus musiziert.
Seit wann proben Sie wieder?
Grünert: Wir haben während des Lockdowns multimedial geprobt, indem ich am Klavier Musikdateien eingespielt und sie an die Sänger versendet habe. Wir standen in diesen Wochen auch telefonisch in Kontakt. Seit Ende der Sommerpause treffen wir uns in verschiedenen Projektgruppen. Ich muss ja sehen, dass ich alle Sänger berücksichtigen kann, auch wenn wir derzeit nur in sehr reduzierter Zahl in einem Raum proben dürfen.
Wobei ein Chor ja nicht nur proben, sondern auch öffentlich auftreten will…
Grünert: Das wiederum ging relativ schnell. Schon im Mai sangen wir erstmals wieder in einem Gottesdienst, wo wir auf vier Emporen verteilt zu hören waren – was sehr schön war! Wir haben in dieser Zeit den Kirchenraum ganz neu entdeckt, haben später mit acht, dann mit zwölf Chorsängern geprobt, bis wir vor der Sommerpause tatsächlich wieder erste Konzerte geben konnten, die wir sowieso mit reduzierter Besetzung geplant hatten.
Inwiefern konnten Sie und die Sänger den Kirchenraum neu für sich entdecken?
Grünert: Normalerweise haben wir – also Chor, Solisten und Sänger – immer auf dem Altarplatz musiziert. Die klassische Aufstellung eben, wie man sie seit dem 19. Jahrhundert so kennt. Im seltensten Fall haben wir uns während des Abendmahls mal auf die eine Sängerempore zurückgezogen. Gelegentlich erklang an Weihnachten noch vom Hauptkuppelraum die Engelsstimme zu „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Das waren aber auch schon die Musizierorte, die wir so gepflegt haben. Jetzt haben wir erst mal beide Sängeremporen einbezogen: die Männerstimmen auf der einen Empore, die Frauenstimmen auf der anderen. Die jeweils letzten Reihen sind dann zwar zwanzig Meter voneinander entfernt, aber das funktioniert akustisch erstaunlich gut. Bei Chorsinfonik spielt das Orchester allein auf dem Altarplatz mit den nötigen Abstandsregeln, während der Chor auf der Orgelempore an der Brüstung platziert ist, so dass noch Sichtkontakt zum Dirigenten besteht. Die Solisten selbst sind dann auf den Treppenstufen, die zum Altarplatz führen. Wir haben aber auch den Kuppelanlauf für uns entdeckt. Denkbar wäre auch das Kranzgesims, denn dort könnte man sich komplett mit dreißig Leuten im Kreis aufstellen.
Hat die neuartige Probenarbeit auch den Klang des Chors verändert?
Grünert: Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch, aber auch mit einem neutralen Blick kann ich viele positive Dinge erkennen. Zum einen ist das Proben in ganz kleinen Gruppen extrem effizient, da nun jeder ganz anders gefordert und gefragt ist. Wir haben derzeit auch Stücke auf dem Programm, die wir auf die Aufführungspraxis bezogen gut darstellen können.
Wie meinen Sie das?
Grünert: Ein konkretes Beispiel sind Bachs Chorwerke. Die hört man zwar oft mit einer Besetzung von bis zu fünfzig Sängern, Bach selbst aber hatte einen Chor, der nie stärker war als zwölf Sänger war. Insofern sind wir jetzt ganz nah dran an den Bedingungen, unter denen damals Bach seine Werke aufführte.
Wie ist denn die Stimmung in Ihren Chören?
Grünert: Bei denen, die mitmachen, ist die Stimmung gut! Ein Chor ist aber ein heterogenes Wesen. Es gibt einige Sänger, die sich derzeit bewusst zurückhalten, wenn sie beispielsweise zu einer Risikogruppe gehören. Und es gibt auch Chorsänger, die gemerkt haben, dass ihnen in der probenfreien Zeit gar nichts gefehlt hat. Es gab auch Chorabmeldungen, das muss ich schon sagen. Das wird sicherlich jeden Chor treffen. Auch das Gemeinschaftsgefühl, das jeden Chor so auszeichnet, wird in dieser Zeit doch recht strapaziert. Bei jeder Probe gibt es stets wechselnde Besetzungen, so dass sich manche Chorfreundschaften mitunter mehrere Wochen lang nicht sehen.
Sehen Sie eine Gefahr, dass auf den Chor oder die Kirchenmusik an der Dresdner Frauenkirche generell existenzielle Nöte zukommen?
Grünert: Naja, mich plagen schon Sorgen, wie ich meine Chorarbeit effizient-künstlerisch, aber auch finanziell-organisatorisch auf die Reihe bekommen kann mit den Einschränkungen. Aber unterm Strich macht es nach wie vor unglaublich viel Spaß, mit so motivierten Sängern zu arbeiten. Man muss halt auch in so einer Situation das Gute sehen und das Beste draus machen. Fatal wäre es, wenn man sagt, man hat verloren. Wenn ich auf das Musikjahr 2021 schaue, bin ich vor allem dankbar und stolz: Sofern die Veranstaltungslänge genehmigt wird, dürfen wir tatsächlich eine „Johannes-Passion“ machen und das „Weihnachtsoratorium“ aufs Programm setzen. Auch ein Mozart-Requiem steht auf dem Plan. Insofern schätze ich mich schon glücklich: Ich habe die Chorsänger an meiner Seite, und ich habe die wirklich exzellenten Musiker der Staatskapelle, die danach lechzen, endlich wieder Musik vor einem größeren Publikum machen zu dürfen. Und schließlich habe ich hier das organisatorische Umfeld, das auch nicht weggebrochen ist. Das alles gibt mir eine Sicherheit und Gelassenheit.
Haben Sie Sorge, dass das Publikum während der Coronakrise feststellen könnte, dass ihm die Konzerte gar nicht mehr fehlen?
Grünert: Sicher, die Gefahr besteht, keine Frage. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und was er sich abgewöhnen kann, gewöhnt er sich ab. Aber trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass Genuss im Allgemeinen – und da gehört das Musikhören dazu – absolute Lebensqualität ist. Und wenn man die Lebensqualität mal so für sich genossen hat, dann sucht man wieder den Weg dorthin zurück.