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Blickwinkel – Musikalische Schule: Jörg-Martin Wagner und Sandra Scheffel

„Immense Auswirkungen auf Lesen, Schreiben und Rechnen“

Wie die Daniel Barenboim Stiftung in Berlin-Pankow ein Projekt mit Modellcharakter fürs ganze Land schaffen will.

vonChristian Schmidt,

Die Vielfalt musikalischer Bildung in Grundschulen ist dank der föderativen Struktur des deutschen Bildungswesens ziemlich unübersichtlich. Zu den ambitioniertesten Projekten in Berlin gehört dabei die „Musikalische Schule“. Hier entsteht an der „48. Grundschule in Pankow“ ein ganz eigener Entwurf einer allgemeinbildenden Schule, an der alle Kinder zusätzlich zum normalen Curriculum eine umfassende musikalische Ausbildung erhalten. Im Interview erläutern Jörg-Martin Wagner von der Daniel Barenboim Stiftung und Schulleiterin Sandra Scheffel das Konzept, das irgendwann für ganz Berlin Modell stehen könnte.

Die von Daniel Barenboim initiierte Stiftung engagiert sich schon auf vielen verschiedenen Ebenen für Musik als Medium der Verständigung. Warum nun eine Schule?

Jörg-Martin Wagner: Die Stiftung ist ja mal entstanden im Wunsch, klassische Musik und Bildung zu vereinen. Was bei den vielen Projekten noch fehlte und Herrn Barenboim sehr wichtig ist, war die Verbindung mit einer Schule. Angefangen haben wir 2018 mit einer privaten Schule, doch dort ging es schon aus räumlichen Gründen nicht weiter. Seit 2019 waren wir dann auf der Suche nach einer „Musikalischen Schule“.

Fündig wurden Sie bei der staatlichen 48. Grundschule in Pankow.

Wagner: Diese öffentliche Schule hat ein ganz normales Einzugsgebiet und wählt nicht nach besonderen Begabungen aus. Diese Zufälligkeit war uns wichtig, denn jeder Mensch ist ein musikalisches Wesen, dessen Ausbildung auch von Musik getragen sein muss.

Sandra Scheffel: Seit August 2021 bekam hier eine Klasse besonderen Musikunterricht am Klavier wie das Kennenlernen der verschiedenen Buchstaben, einmal die Woche fünfzehn Minuten. Jetzt sind es drei Klassen, davon zwei in der Jahrgangsmischung 1 bis 3 und eine Vierte. Ab nächstem Schuljahr sechs mit 160 Schülern. Der Projektzeitraum geht über sechs Jahre und soll als Modellprojekt Schule machen. Wir können es leider noch nicht für alle Klassen anbieten. Schon jetzt profitiert aber die gesamte Schule von gemeinsamen Workshops oder Aktionstagen. Das Projekt muss einfach wachsen, und wir durchleben eine steile Lernkurve, was geht und was nicht.

Warum ist die Wahl auf diese Schule gefallen?

Wagner: Das war vor allem wegen der Unterrichtsform des individualisierten Lernens, das wenig starre Pläne hat und viel sogenannte Freiarbeit. So bekommt während des Unterrichts jedes Kind quasi zwischendurch gesagt, wann es mit Klavierunterricht dran ist, was in einer konventionellen Schule eher nicht geht. Außerdem setzt die Montessori-Pädagogik auf die Ausbildung des doppelten Bewusstseins – intuitiv und kognitiv.

Möchte im Auftrag der Daniel Barenboim Stiftung klassische Musik und Bildung vereinen: Jörg-Martin Wagner
Möchte im Auftrag der Daniel Barenboim Stiftung klassische Musik und Bildung vereinen: Jörg-Martin Wagner

Gibt es Instrumentalunterricht nicht schon an manchen Schulen im Curriculum?

Wagner: Gruppenweise gibt es das glücklicherweise bereits an sehr vielen Schulen. Bei uns aber erhalten alle Kinder drei Mal pro Woche kostenlosen Einzelunterricht. Und das ist nur eine unserer vier Säulen, die sich zum Teil noch im Aufbau befinden: Dazu gehört auch Projektunterricht, also Lernphasen mit besonderem musikalischen Teil, spezieller Musikunterricht und Ensembleunterricht.

Wird das Klavier alleiniges Instrument bleiben?

Wagner: Es macht nur den Anfang, später sollen noch andere Instrumente im Einzelunterricht hinzukommen. Das Klavier ist allerdings wichtig als Startpunkt, um den Tonraum taktil, physisch und grafisch kennenzulernen, so dass man später auf diese Erfahrung zurückgreifen kann, wenn man ein anderes Instrument lernt, denn dann hat man Tonleitern und Harmonien schon verstanden.

Graben Sie mit dem Einzelunterricht nicht den Musikschulen das Wasser ab?

Wagner: So weit ich das überblicke, führen sie einerseits lange Wartelisten, sind chronisch unterfinanziert. Da wurde in den letzten zwanzig Jahren sehr viel gespart, was den Lehrkräften nicht gut getan hat. Andererseits haben es die Musikschulen immer schwerer, angesichts des vollen Schultags die Kinder am Nachmittag zu sich zu holen. Daher kommen sie bereits jetzt für manchen Unterricht in die Regularschulen, was einen hohen logistischen Aufwand mit sich bringt.

Frau Scheffel, Sie haben das Glück, als Schule „auserwählt“ zu sein. Rennen Ihnen die Eltern nun die Bude ein?

Scheffel: Durchaus, aber wir sind nicht nur wegen der musikalischen Ausrichtung sehr anerkannt, sondern auch wegen der Montessori-Ausrichtung. Grundsätzlich hat ja jede Schule ihr geografisches Einzugsgebiet, aber die Eltern können natürlich einen Umschulungsantrag stellen, aber leider können wir nicht alle bedienen. Je bekannter das Projekt wird, desto höher der Ansturm.

Sandra Schffel ist Schulleiterin der 48. Grundschule in Berlin-Pankow
Sandra Schffel ist Schulleiterin der 48. Grundschule in Berlin-Pankow

Erreichen Sie damit nicht vor allem jene Elternhäuser, die ohnehin schon eine gewisse musikalische Affinität haben?

Scheffel: Ganz im Gegenteil, weil ja immer eine ganze Klasse davon profitiert, also zum Beispiel auch Kinder aus Flüchtlingsheimen. Wir achten sehr genau auf eine gute Mischung aus Mädchen und Jungen, deutsche und nichtdeutsche Herkunft. Bei manchen, von denen es vorher vielleicht niemand gedacht hätte, steht jetzt schon auf dem Weihnachtswunschzettel ein Klavier.

Wagner: Wir befinden uns zwar nahe am Prenzlauer Berg, aber hier prägen eher Genossenschaftswohnungen das Bild, und in welchem Straßenzug man wohnt entscheidet darüber, ob das Kind auf diese Schule kommt oder nicht. Eine Eliteförderung sollte die „Musikalische Schule“ nie werden, und wir achten sehr darauf, dass sie es nicht aus Versehen wird.

Wie anders erleben Sie den Schulalltag?

Scheffel: Ich habe schon das Gefühl, dass die Klassen sozial besser zusammenwachsen. Es verbindet sie etwas, und die Kinder lernen etwas, das die Eltern nicht können. Zudem tut ihnen die ungeteilte Aufmerksamkeit der Lehrkräfte sehr gut, ebenso die Rhythmisierung unserer neunzigminütigen Lernblöcke. Allein der Raumwechsel bringt schon viel an Konzentration. Der Montessori-Pädagogik ist es ja ganz wichtig, das Lernen zu lehren. Nicht zuletzt ist es auch für das Kollegium nützlich, über den Tellerrand hinauszublicken, so etwas funktioniert nicht in alten Strukturen.

Und bei den Eltern?

Scheffel: Eltern wie Kinder erleben zum Beispiel die regelmäßigen Vorspiele als ganz besonderen Moment. Die Eltern würdigen die Lernleistung ihrer Kinder ganz anders, die auf ein besonders Ziel hin arbeiten, das ist ein ganz anderer Aspekt im Schulalltag und hat immense Auswirkungen auf das Lesen, Schreiben und Rechnen. Und natürlich sind die Eltern unheimlich stolz auf ihre Kinder und auch dankbar, weil ihren Kindern etwas angeboten wird, das sie sich vielleicht aus finanziellen oder organisatorischen Gründen nicht leisten könnten. Ich würde mir sehr wünschen, dass dies nicht nur ein Leuchtturmprojekt bleibt, sondern in die Bildungslandschaft grundsätzlich einziehen kann. Wir wollen eine Schule, wo man gern hingeht und sich wohlfühlt.

Wagner: Wenn man so will, statuieren wir hier ein Exempel, an dem die Schulverwaltung irgendwann die Vorteile für alle erkennen kann. Die inhaltliche Weiterentwicklung ist der wichtigste nächste Schritt, denn wir erfinden hier ja einen völlig neuen Pfad der musikalischen Bildung und wollen vom ersten Schultag bis zum Abitur ein vernetztes Curriculum entwickeln.

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