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Blickwinkel: Reiner Pfisterer

„Ich hatte in dreißig Jahren noch kein Projekt, bei dem der Faktor Zeitgeschichte so wichtig gewesen ist“

Der Ludwigsburger Fotograf Reiner Pfisterer dokumentiert in seiner Postkarten-Serie „Die Rückkehr der Musik“, wie Musiker kreativ mit der Coronapandemie umgehen.

vonJan-Hendrik Maier,

Was war der Auslöser für „Die Rückkehr der Musik“?

Reiner Pfisterer: Mir ging es vor zwei Jahren wie vielen in der Kreativbranche: Die Auftragssituation war auf einmal sehr überschaubar. Der Musikfotografie aber gebe ich mich seit dreißig Jahren mit Herzblut hin. Als nach ein paar Wochen einige Events wieder stattfanden, war für mich klar: Ich will die Musik- und Liveveranstalter durch diese Zeit begleiten und in großem Stil dokumentieren, wie sie auf kreative Art und Weise weitermachen. Mir geht es hier um Solidarität mit ihnen und um Sichtbarkeit für sie.

Sie wollen den Künstlern also auch etwas zurückgeben?

Pfisterer: Absolut. Ohne Künstler und Veranstalter könnte ich meinen Job nicht machen. Danke, dass euch gibt! In der Pandemie war ich oft der einzige Fotograf vor Ort, dadurch sind neue Freundschaften entstanden.

Wie haben Sie die Orte und Musiker für das Projekt ausgewählt?

Pfisterer: Zunächst habe ich in meiner Region um Ludwigsburg geschaut, was mir begegnet. Nach dem ersten Postkarten-Set im September 2020 weitete sich das dann auf ganz Baden-Württemberg aus, später bundesweit. Dabei stellte sich mir stets die Frage, wie ich es als Einzelperson schaffe, das Thema möglichst breit zu bedienen und zugleich allen Musikgenres gerecht zu werden. So entstand eine Vielzahl verschiedener Motive, mit Profis, mit Amateuren, Fotos von Konzerten in der Elbphilharmonie, in Strandkörben, in Parkhäusern. Der Zugang war nicht immer einfach, beispielsweise weil bei Streaming-Konzerten wegen Corona eigentlich niemand zusätzlich dabei sein durfte.

Chorprobe von Singvolution im MairDumont-Parkhaus in Ostfildern-Kemnat
Chorprobe von Singvolution im MairDumont-Parkhaus in Ostfildern-Kemnat

Wie ist es Ihnen trotzdem gelungen?

Pfisterer: Die Künstler haben sich durchweg alle gefreut, dass sich ihrer jemand annimmt, der zeigen will, dass es trotz der Pandemie weitergeht. Ich habe hier sehr viel Anerkennung von den Künstlern erfahren, es gibt ein aufrichtiges Gefühl der Solidarität auf beiden Seiten.

War der Zugang zu Orchestern während der Pandemie einfacher?

Pfisterer: Der Begriff „Vertrauen “ist in diesem Umfeld unfassbar wichtig. Ein Beispiel: Ich arbeite seit eineinhalb Jahren mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen zusammen. Während eines Streaming-Konzertes konnte ich dem Pianisten aus drei Metern Entfernung auf die Finger schauen. Das sind besondere Bilder, die während einer normalen, ausverkauften Vorstellung nahezu unmöglich sind. Da bekommen Sie einen Platz am Rand, an den Sie sich strikt halten müssen.

Vor der Pandemie haben Sie zehn Jahre lang das Stuttgarter Kammerorchester weltweit auf Tourneen begleitet. Inwiefern unterscheidet sich „Die Rückkehr der Musik“ von vorherigen Dokumentationen?

Pfisterer: Das ist eine verrückte Geschichte. Beim Ausbruch der Pandemie habe ich gerade die Motive für das Buch zum Stuttgarter Kammerorchester ausgewählt, Bilder aus der großen weiten Welt. Bei meiner „Rückkehr der Musik“ hatte ich das Gefühl, als säße ich in meiner Wohnung im ersten Stock und beobachtete, wie im Vorgarten ganz langsam die kleinen Dinge wieder sprießen. Ich dokumentiere immer, was da ist, aber was geboten wurde, war eben nicht mehr das Opernhaus in Peking, sondern ein Parkhaus in Ostfildern, in dem ein Chor geprobt hat, um präsent zu sein, und in dem sich die Sänger so einen wichtigen Teil ihrer Lebensqualität erhalten haben.

Utopisch anmutend: Spielzeiteröffnung der Württembergischen Philharmonie Reutlingen in der Stadthalle Reutlingen
Utopisch anmutend: Spielzeiteröffnung der Württembergischen Philharmonie Reutlingen in der Stadthalle Reutlingen

Proben im Parkhaus, Konzerte auf der Wiese vor einem Seniorenheim oder mit tausend Menschen vor einer Bühne im sonst leeren Münchner Olympiastadion. Was machen solche Motive mit Ihnen?

Pfisterer: Ich hatte in dreißig Jahren noch kein Projekt, bei dem der Faktor Zeitgeschichte so wichtig gewesen ist. Wenn Sie in fünf Jahren alle Postkarten nebeneinanderlegen, haben Sie den Ablauf der Pandemie in Deutschland vor sich. Ich suche in den Postkarten-Sets nicht nach der spannendsten Abfolge, sondern gehe streng chronologisch vor, das ist mir ganz wichtig. Im Sommer 2021 sind ganz viele verrückte Motive entstanden: Beim Picknickkonzert in Konstanz waren im ganzen Bodenseestadion Linien im Abstand von zwei Metern gezogen. Zwischen den einen durfte man stehen oder sitzen, zwischen den nächsten nicht, es wurde streng patrouilliert. In zehn Jahren wird man sich fragen, warum man sich den ganzen zum Teil auch unwirtschaftlichen Stress angetan hat.

Was möchten Sie mit Ihren Bildern vermitteln?

Pfisterer: Ich will dokumentieren, unter welchen zum Teil verrückten Bedingungen Konzerte stattfinden konnten und können. Da war es mir bei vielen Events nicht wichtig, wer gerade auf der Bühne steht. Bis zum letzten Sommer konnte ich nur deutsche Künstler fotografieren, weil keine internationalen Tourneen stattfanden. Das Projekt ist damit auch ein tiefer Blick in die hiesige Kulturlandschaft. Zudem halte ich fest, wie Orte der Musik aussehen. Das beginnt für mich schon am Einlass: Wie sind die Sicherheitsvorkehrungen, flattern Bänder herum und so weiter. Meine Bilder sollen Atmosphäre widerspiegeln.

Wie hat sich dadurch Ihr Blick auf die Branche verändert?

Pfisterer: Früher ist man halt einfach ins Konzert gegangen. Durch die Pandemie ist mir noch bewusster geworden, wie viel Mühe dahintersteckt, in diesem Bereich seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, und wie wichtig es ist, dass das langfristig für uns alle erhalten bleibt. Wir dürfen die Kulturbranche nicht vergessen.

Der Beethoven-Zyklus des Staatsorchester Stuttgart in der Liederhalle
Der Beethoven-Zyklus des Staatsorchester Stuttgart in der Liederhalle

Welche Momente sind Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?

Pfisterer: Ich habe schnell gemerkt, dass Profis und Amateure dasselbe Problem haben: Seit zwei Jahren steht die Liebe zur Musik auf dem Spiel. Eine Musicalgruppe aus Neckarsulm hat sich jeden Sonntagmorgen zur Probe auf einem Parkplatz getroffen. Jeder saß mit Mikrofon und Lautsprecher in seinem Auto, perfekt miteinander verkabelt, so dass alle ihren Einsatz an der richtigen Stelle trafen. Im Sommer konnten sie ihr Musical auch aufführen. Über die Württembergische Philharmonie Reutlingen habe ich den Hornisten Felix Klieser kennengelernt. Mich beeindruckt und berührt es total, dass er, obwohl er ohne Arme auf die Welt gekommen ist, den Willen für so eine riesige Karriere hat und sich von nichts abbringen lässt. Bei beiden imponiert mir die Idee: Wir machen es trotzdem, wir lassen uns nicht unterkriegen.

Woher nehmen Sie die Motivation für diese fotografische Langstrecke?

Pfisterer: Aus der Dankbarkeit über das Privileg, persönliche und nahe Situationen mit Künstlern erleben zu dürfen, von denen andere vielleicht träumen. Aus der riesigen Freude über Konzerte, aus dem Glück, dass ich etwas Bleibendes schaffen kann, was mich und andere Menschen berührt.

Im Sommer soll die Musik in einem sechsten Postkarten-Set zurückkehren.

Pfisterer: Mit Motiven aus diesem Jahr. Letzte Woche war ich bei Hans Zimmer in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle, der größten Halle in Stuttgart. Die Bestuhlung war wie früher. Die Leute trugen zwar Maske, aber ansonsten ähneln die Fotos denen vor der Pandemie. Die Motive werden jetzt wieder normaler. Schauen wir mal, wie der Sommer wird und ob mein Projekt dann wirklich zu Ende ist. Vorerst werde ich weiterfotografieren.

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