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Blickwinkel: Roni Mann

„Musik ist eine Erhöhung des Menschseins“

Als Prodekanin leitet Roni Mann die geisteswissenschaftlichen Studien an der Barenboim-Said Akademie und unterrichtet Musikstudierende im Fach Philosophie. Jüngst hat sie mit ihren Kollegen Jacob Eder und Kai Wiegandt eine neue Vortragsreihe ins Leben gerufen.

vonSören Ingwersen,

Warum ist es für Musikstudenten wichtig, sich mit Politik und Philosophie zu beschäftigen?

Roni Mann: Daniel Barenboim und Edward W. Said (die Gründer des West-Eastern Divan Orchestra, aus deren Idee die Barenboim-Said Akademie hervorgegangen ist, A. d. R.) waren zutiefst überzeugt davon, dass Musik in vielerlei Hinsicht mit anderen Aspekten des Lebens verbunden ist. Diese Verbindung wollen wir vertiefen, weil sich in der musikalischen Praxis unser Denken über menschliche Beziehungen, über Wahrheit und Geschichte spiegeln kann. Wir sind überzeugt davon, dass es sich in der musikalischen Praxis niederschlägt, wenn Interpreten in ihrem Denken, ihrer Kultur und Persönlichkeit geerdet sind. Aber dafür gibt es natürlich keinen empirischen Beleg.

Die Geisteswissenschaften helfen also bei der Vorbereitung auf das Orchesterspiel?

Mann: Wir wollen Musiker nicht allein für das Orchesterspiel ausbilden, sondern auch für die soziale, politische und kulturelle Welt, in der Orchester auftreten.

In der westlichen Welt hat man eine sehr eurozentristische Sicht auf die Philosophie. Die Wiege der Philosophie wird im antiken Griechenland verortet. Später entwickelt sie sich vorrangig in Deutschland und Frankreich weiter. Haben Sie einen globaleren Blick auf die Philosophiegeschichte?

Mann: Ein erweiterter Blick ist unbedingt notwendig. Dabei ist die klassische Sichtweise aber auch nicht vollkommen falsch. Der Einfluss der europäischen Philosophie ist zentral für das Verständnis der Moderne. Jeder zeitgenössische Philosoph weltweit hat Kant und Hegel gelesen. Wenn man von der griechischen Antike redet, redet man aber auch von Nordafrika, von der Kultur der Phönizier – heute Libanon und Syrien – und der Westtürkei.

Aber von dort aus führt die Linie des Denkens nach Europa …

Mann: Auf Umwegen. Wir wissen, dass wichtige Teile dieses Wissens vom frühen Christentum unterdrückt wurden, für ihr Fortleben waren die Denker der mittelalterlichen islamischen Welt sehr wichtig. Ihre Schriften sind zentral für unser Verständnis der antiken griechischen Philosophie. Das zu verstehen, ist besonders für unsere Studierenden wichtig, von denen ja viele aus islamischen Kulturen stammen. Man sollte sich aber klarmachen, dass zur Zeit der griechischen Antike auch in China und Indien wundervoll komplexe Ideen in Form des Taoismus, des Konfuzianismus und Buddhismus aufkamen, und kann sich nur wundern über das Mysterium, dass sich zur gleichen Zeit unabhängig voneinander sehr ähnliche Ideen entwickelten.

Die Philosophie lässt sich grob in zwei Disziplinen einteilen: die theoretische Philosophie und die praktische Philosophie. In welchen Themenbereichen bewegen Sie sich mit Ihren Studenten?

Mann: Zum Glück gibt es ja so etwas wie eine Dialektik von Theorie und Praxis. Wir beschäftigen uns mit Ethik, besseren Beziehungen, Zufriedenheit, einem tieferen Verständnis unserer eigenen Bedeutung. In meinem Unterricht achte ich immer darauf, dass das Denken an das Leben gebunden bleibt. Auch wenn unsere Studien tief im Geist verwurzelt sind, bleiben wir also immer nah an der Praxis.

In der Dialektik verschmelzen Gegensätze, wird Konfliktpotenzial abgebaut …

Mann: Edward W. Said hat gesagt, das musikalische Hören trainiert die Fähigkeit, gegensätzliche Narrative zusammenzudenken und zu verstehen, dass die Wahrheit eine komplexe Beziehung widersprüchlicher Sichtweisen ist. Menschen haben eine starke Tendenz, Dinge einseitig zu betrachten und einfache Antworten zu finden, was sich momentan sehr deutlich in den Sozialen Medien zeigt. Musiker hingegen lernen, dass die Sache komplexer ist. Ein Musikstück besteht auf verschiedenen Stimmen. Das ist keine bloße Metapher, sondern eine praktische Erfahrung. Die Frage ist: Können wir diese Gewohnheit in eine Ethik verwandeln und auf unsere menschlichen Beziehungen übertragen? Und gelassen mit verschiedenen Narrativen leben, die scheinbar im Konflikt miteinander stehen? Musiker haben das Privileg, diese Fragen immer wieder praktisch lösen zu müssen.

Es gibt Musiker, die zugleich Philosophen sind. Ein berühmtes Beispiel ist Theodor W. Adorno. Seine Kompositionen gelten allerdings als eher spröde und werden nur selten gespielt. Kann es sein, dass die geisteswissenschaftliche Reflektion der künstlerischen Intuition im Wege steht?

Mann: Daniel Barenboim würde widersprechen. Er glaubt fest daran, dass intellektuelle Tiefe der Intuition nicht im Wege steht, sondern sie fördert. Viele Musiker, die ich treffe – ob Studierende oder professionelle –, sind aber tatsächlich besorgt, dass zu viel Analysearbeit die direkte Beziehung zur Musik und den unmittelbaren Ausdruck stören kann. Ich glaube, das hängt sehr davon ab, auf welche Art und Weise man seine Studien betreibt und ob man dabei intelligent vorgeht, das heißt inwieweit man die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit mit der Praxis verbindet. Man sollte zum Beispiel um des Verstandes Willen nicht den Körper außer Acht lassen oder ein Musikstück nur auf eine Idee oder ein Konzept reduzieren.

Wie wird ihr Unterricht von den Studierenden angenommen?

Mann: Viele kommen direkt von der Highschool zu uns, wo sie intellektuelle Beschäftigung oft als entfremdend erfahren haben und nur in der Musik wirklich mit sich selbst eins waren. Bei uns erkunden sie dann ein Denken, bei dem man eine Verbindung zur eigenen inneren Suche, zu den eigenen Bestrebungen spürt. Es geht uns weniger darum, was ein Philosoph sagt, sondern darum, was man selbst von der Hilfe, die einem Philosophen anbieten, auf der Bühne nutzen kann.

Im Zusammenhang mit dem von Daniel Barenboim gegründeten West-Eastern Divan Orchestra fällt fast immer der Satz „Musik ist eine Weltsprache, die jeder versteht“. Würden Sie diese Aussage unterstützen?

Mann: Allgemein betrachtet stimmt das sicherlich. Musik überwindet mit ihrer nicht begrifflichen Sprache kulturelle Schranken und kann uns emotional und geistig direkt ansprechen und ein gegenseitiges Verstehen ermöglichen. Aber dieses Konzept wird problematisch, wenn es darauf hinausläuft zu sagen: Beethoven ist universal, aber arabische Musik ist lokal. Das ist zweifellos falsch!

Ich habe kürzlich gelesen, dieser Satz stammt aus dem „Wörterbuch der Musik“ des Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Rousseau spricht dort aber nicht von der Musik als Ganzes, sondern von der Melodie, die er als natürlich und ursprünglich betrachtet. Mit der Einstimmigkeit polemisiert er gegen die Harmonik und Mehrstimmigkeit in der Musik ebenso wie in der Gesellschaft. Ist es wichtig, solche Missverständnisse aufzuklären?

Mann: Ich wusste nicht, dass Rousseau das so gesagt hat. Eine verdächtig flache Argumentation für jemanden, der so eine wichtige geistesgeschichtliche Rolle einnimmt. Dieser Äußerung entnehme ich, dass er der Verlockung nicht widerstehen konnte zu generalisieren und vereinfachende Metaphern zu verwenden. Wir sollten als Philosophen nicht in die Falle laufen, Musik mit einem Objekt gleichzusetzen, sondern sie als aktuelle, lebendige Praxiserfahrung, als eine Erhöhung des Menschseins begreifen.

Können Sie noch etwas zu Ihrer neuen Vortragsreihe sagen?

Mann: In unserer geisteswissenschaftlichen Abteilung fokussieren sich die Studierenden auf Themen der Philosophie, Literatur und Geschichte. Daher haben in diesem Semester drei Professoren des Hauses – Geschichtsprofessor Jacob Eder, Literaturprofessor Kai Wiegandt und ich selbst – eine öffentliche und thematisch offene Vortragsreihe ins Leben gerufen, in deren Rahmen wir Autoren und Denker aus unterschiedlichen Fachbereichen einladen: das Akademie-Forum. Menschen, die unsere musikalischen Veranstaltungen im Pierre Boulez Saal besuchen, bekommen damit auch einen Eindruck davon, womit wir uns im geisteswissenschaftlichen Bereich beschäftigen. Am Ende jedes Vortrags gibt es Zeit zum Diskutieren. Wir sind sehr glücklich über die große Resonanz bisher und die lebendige Atmosphäre bei den Veranstaltungen. Wir haben in den nächsten Monaten viele wundervolle Gäste: Miriam Rürüp, Asal Dardan und Rainer Forst, um einige zu nennen.

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