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Blickwinkel: Sophie Heinrich

„Ich spüre, dass ich eine Pionierin bin“

Der Film „Tonsüchtig“ geht hautnah an die Wiener Symphoniker heran und begleitet sie auf der Suche nach einem neuen Konzertmeister. Den Posten bekommt zunächst die deutsche Geigerin Sophie Heinrich. Im Interview erzählt sie von ihrem Weg nach Wien, die Arbeit mit dem Orchester und ihrer Rolle als erste Frau in dieser Position.

vonIrem Çatı,

Seit Juni 2019 sind Sie bei den Wiener Symphonikern. Wie waren die ersten Monate?

Sophie Heinrich: Die waren angereichert mit unheimlich vielen, intensiven Erlebnissen. Ich muss auch sagen, dass ich mich noch immer nicht an die wunderbaren Konzertsäle gewöhnt habe. Einfach ins Konzerthaus oder in den Musikverein zu gehen und dort zu proben ist eine sehr geniale Sache. Ich habe wahnsinnig viel gelernt und hoffe, dass das auch nicht so schnell aufhört. Das Orchester ist auch größtenteils sehr nett. Natürlich muss man sich erst einmal aneinander gewöhnen und einfinden, denn letztlich bin ich als Außenstehende mit Leitungsfunktion neu in das Orchester gekommen.

Bis November 2020 waren Sie außerdem erste Konzertmeisterin. Was, denken Sie, unterscheidet Ihre Arbeit von der Ihrer Vorgänger?

Heinrich: Viel! Das eckt auch ein bisschen an, hier im konservativen Wien. Ich bin ein Teamplayer und will mich auf keinen Fall breitbeinig vorne hinsetzen und sagen: Ihr folgt mir jetzt alle. Denn die Musikerinnen und Musiker sind inzwischen so fantastisch ausgebildet. Nicht nur die Geiger hinter mir, sondern im ganzen Orchester. Deswegen sehe ich meinen Job darin, dann zu führen, wenn es wirklich wichtig ist. Und ansonsten auch ganz viel zu lassen. Und wenn jemand einen guten Vorschlag aus der Gruppe hat, soll er sich bitte trauen, diesen zu teilen.

Wo haben Sie Ihre Rolle zwischen Dirigent und Orchester gesehen?

Heinrich: Konzertmeister sind Vermittler. Sie glauben gar nicht, wie wichtig die Beziehung zwischen dem Dirigenten und dem Konzertmeister ist. Oder zwischen dem Konzertmeister und dem Solisten. Ein Beispiel: Der Dirigent macht ja, neben der sehr wichtigen Probenarbeit, „nur“ Bewegungen und atmet mit der Musik. Und es ist meine Aufgabe als Konzertmeisterin, mit ihm zu atmen und mich mit ihm zu bewegen. Der Atem verbindet alle Musiker miteinander, egal was sie spielen oder singen, und einer natürlichen, klaren Bewegung/Impulsen kann man folgen. Notfalls muss ich in den Momenten, in denen es nötig ist, einspringen und das Orchester statt des Dirigenten führen.

Wie hat sich Ihre Arbeit seit der Corona-Krise verändert?

Heinrich: Wie überall hat sich vor allem die Planbarkeit sehr verändert. Normalerweise arbeiten wir in unserer Branche ja mindestens drei Jahre im Voraus. Momentan wissen wir nicht einmal, was nächste Woche passiert. Man ist eigentlich immer nur am Reagieren. Auch die Betrachtung meiner Tätigkeit hat sich sehr verändert. Zum einen möchte ich dem Publikum sagen, wie sehr es mir fehlt und wie überrascht ich selbst darüber bin, wie wichtig das Publikum für mich ist. Ich bekomme so viel Kraft von dem Beisammensein mit dem Publikum und dem gemeinsamen Musizieren mit meinen Kollegen. Andererseits finde ich es unglaublich traurig, dass die Regierung uns einfach abschaltet und unsere Kraft unterschätzt. Manchmal wünsche ich mir fast, dass man das Radio anmacht und keine Musik hört, um zu zeigen, was man an uns hat.

Wie halten Sie sich in der konzertfreien Zeit fit?

Heinrich: Ich habe in meiner Aufgabe als Konzertmeisterin gleich mit schweren Sachen wie „Ein Heldenleben“ und „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss angefangen und ein ganzes Konzert geleitet. Außerdem sind wir durch den ganzen Lockdown derart eingedeckt worden und mir wurden so viele verantwortungsvolle Dinge anvertraut, dass ich gerade fitter bin denn je. Für mich war das sehr attraktiv, weil ich wahnsinnig viel mitgestalten konnte und gefordert war.

Sophie Heinrich
Sophie Heinrich

Zuvor waren Sie sieben Jahre lang Erste Konzertmeisterin an der Komischen Oper. Haben Sie den Schritt nach Wien je bereut?

Heinrich: Nein. Ich finde, es war unglaublich mutig, aber ich habe in Berlin studiert und sieben Jahre an der Komischen Oper verbracht und hatte mal wieder Lust auf was Neues. Wien hat sich dann aufgetan und ich wollte es einfach probieren. Ich bereue den Schritt gar nicht, weil ich es immer gut finde, wenn man in Bewegung bleibt und sich weiterentwickelt.

Wo sehen Sie Unterschiede zwischen Berlin und Wien?

Heinrich: Die Komische Oper ist ein Regie-Opernhaus. Die Regie steht ganz weit im Vordergrund. Das Orchester leider nicht, obwohl so hervorragende Musiker darin spielen. In Wien steht das Orchester im Fokus – wir sind die Wiener Symphoniker! Das Selbstbewusstsein des Orchesters ist ein ganz anderes und auch die Aufgaben, die man als Konzertmeisterin bekommt, sind andere. Und natürlich das sinfonische Programm. Mal alle Brahms-Sinfonien hintereinander wegzuspielen war für mich ein Erlebnis. Auch die Arbeitszeiten sind angenehmer als in der Oper, vor allem wenn man ein Kind hat.

Sie sind die erste Frau, die Konzertmeisterin bei den Wiener Symphonikern ist. Wie haben das Orchester und Publikum auf Sie reagiert? Wie haben Sie sich selbst damit gefühlt?

Heinrich: Ich habe nie ein Problem damit gehabt (lacht)! Während meines Probejahrs in Berlin habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie eine Frau denn führen soll. Denn es fehlte ja doch an Vorbildern. Aber es werden Gott sei Dank immer mehr! Das Wiener Publikum und die Presse – und das klingt jetzt sehr unbescheiden – lieben das! Ich spüre das im Applaus, und es sind auch schon einige Frauen und junge Studentinnen auf mich zugekommen und haben gesagt: Das tut gut. Ich spüre schon – und ich muss sagen: leider –, dass ich da eine Pionierin bin. Als Frau muss man von der Leistung her unglaublich gut sein, denn es wird einem weniger zugetraut. Wir haben da noch einen langen und weiten Weg vor uns. Eine Frau, die vorne steht, sei es eine Dirigentin oder eine Konzertmeisterin, wird in ihrem Erscheinungsbild ganz anders wahrgenommen als ein Mann. Immer noch wird bei Frauen viel mehr auf Äußerlichkeiten geachtet. Aber ansonsten habe ich das Gefühl, dass die Wiener damit sehr gut zurechtkommen und es sie sehr freut.

Nicht nur Sie haben eine neue Stelle, auch der Chefdirigent wechselt. Wie ist die Stimmung im Orchester?

Heinrich: Ja, Andrés Orozco-Estrada! Er hat im Oktober schon das Eröffnungskonzert dirigiert. Da haben wir „Ein Heldenleben“ gespielt, es war ein sehr schönes Konzert. Ich finde, er hat sich dem Wiener Publikum als neuer Chefdirigent sehr gut präsentiert. Wir müssen uns jetzt kennenlernen aber wir werden ja ständig gestört durch diese Lockdowns (lacht).

Wiener Symphoniker
Wiener Symphoniker

Der Film „Tonsüchtig“ stellt nicht nur das Orchester vor, er begleitet auch Ihren Bewerbungsprozess. Haben die Kameras zusätzlichen Druck auf Sie ausgeübt?

Heinrich: Jein. Ich fand es eigentlich großartig, dass dieses Sujet mal filmisch aufbereitet wird, denn für uns ist das ein bisschen wie die Olympischen Spiele. Deswegen habe ich mich dazu bereit erklärt. Manchmal war es schwer, denn man hat ja dieses Bühnen-Ich mit einer ganz anderen Haltung und Präsenz. Man ist fokussiert und braucht diese Momente, in denen man sich sammelt, und das waren genau die Momente, die für die Kameraleute so interessant waren. Also genau das, was man nicht auf der Bühne sieht. Da muss ich sagen: Das war schwierig, da gehört unheimlich viel mentale Stärke dazu.

Dank des Films konnten Sie auch einen Blick hinter die Kulissen Ihrer Bewerbung werfen. Was war das für ein Gefühl?

Heinrich: Als ich dann die Gesichter gesehen habe, war es schon witzig, aber man muss sich davor hüten, zu viele Dinge hineininterpretieren zu wollen. Es ist letztlich nicht wichtig, was andere denken. Man muss versuchen, bei sich zu bleiben.

Im Film sagen Sie, dass auch eine Absage Ihrerseits möglich gewesen wäre. Als die Zusage dann kam, haben Sie sofort Ja gesagt?

Heinrich: Das war ein langes Interview, das ich gegeben habe, aus dem dann dieser Ausschnitt rausgenommen wurde. Das war ein Moment, indem ich mir selbst Mut zugesprochen habe. Ich wollte mir selbst sagen, dass es nicht schlimm ist, wenn es nicht klappt. Als es dann doch geklappt hat, bin ich tatsächlich aus der Nummer nicht mehr herausgekommen (lacht). Das war wirklich krass, wie in einem Film. Das Team der Wiener Symphoniker wollten die Neuigkeit gleich auf allen PR-Seiten teilen, vor allem, weil ich eine Frau bin und noch nicht einmal aus Wien komme – das ist übrigens auch ein großes Thema! Also, es ist wirklich ein großes Wunder, dass ich die Stelle bekommen habe. Da musste ich kurz eingreifen und sagen: Moment, ich muss erst mit meinem Arbeitgeber und dem Vater meines Kindes sprechen.

Im Film geht es auch um den „Wiener Klang“. Wie erleben Sie diesen?

Heinrich: Den Wiener Klang gibt es! Im Film wird gesagt, dass er leicht imitiert werden kann, und das zeigt ja, dass es ihn gibt. Der Wiener Klang ist beeinflusst von ganz vielen Dingen. Einmal vom Traditionsbewusstsein der Wiener, das wird sehr gepflegt und weitergegeben. Andererseits gibt es hier einen Schmelztiegel von slawischer und von deutscher Seite, in dem ganz viele Einflüsse zusammenkommen – auch sehr viel Volksmusik vom Land. Das sagt Philippe Jordan im Film sehr schön, und ich höre das auch, dass der Klang einfach süßer ist, vor allem derjenige der Streicher. Ich finde, dass die Wiener von der Agogik her experimentierfreudiger sind als die deutschen und auch mal was riskieren. Auch das Musikantische und der schöne Ton sind hier ganz hoch angesehen. Wien ist nicht umsonst die Stadt der Musik. Aber auch die schnellen Finger sind natürlich wichtig, die kommen gleich danach. Das Wichtigste ist aber der ausdrucksstarke Ton.

Sehen Sie den Trailer zu „Tonsüchtig“:

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concerti-Tipp:

„Tonsüchtig – Zwischen Rausch und Routine“
Ein Kinodokumentarfilm von Iva Švarcová und Malte Ludin
Österreich 2020, 90 Minuten

Sehen Sie den Film auf Kino on Demand oder dem On-Demand-Kanal von Rise and Shine

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