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Blickwinkel Spezial – Publikum des Jahres 2021 – Martin Stadtfeld

„Das Publikum ist eigentlich immer mein Freund“

Als Jury-Vorsitzender sucht Martin Stadtfeld mit concerti das Publikum des Jahres 2021. Im Fragebogen zum Thema Publikum gibt er Auskunft über seine Leidenschaft für das Live-Erlebnis, Bestechlichkeit und worüber er sich im Konzertsaal manchmal ärgert.

vonSusanne Bánhidai,

Was zeichnet für Sie ein besonders gutes Publikum aus?

Martin Stadtfeld: Ein gutes Publikum ist neugierig. Ich finde es toll, wenn mir nach dem Konzert jemand sagt: „Ich hatte das nicht erwartet, fand es aber am Ende überzeugend.“ Bei einer ungewöhnlichen Interpretation ist das Publikum mitunter irritiert, lässt sich aber im besten Falle darauf ein und ist bereit, einen neuen Weg mit einem alten Werk zu gehen. Auch sehr wichtig ist ein aktives Publikum. Man spürt sofort, ob eine Stille passiv ist oder die Leute konzentriert lauschen. Diese magischen Momente, wenn alle ihre Konzentration auf die Musik richten, können jeden Künstler sehr beflügeln.

Ist es richtig, von „dem“ Publikum zu sprechen, oder gibt es Unterschiede?

Stadtfeld: Die Reaktion des Publikums hängt davon ab, wo man spielt. Zum Beispiel bei der Schubertiade: Da kann es dir passieren, dass dich jemand beim Frühstück anspricht und sagt: „Der Bach war gestern zu schnell.“ Und dann kann man darüber debattieren, weil das Publikum dort eine gewisse Grundbildung mitbringt und diese auch zeigen will. Anderswo merkt man, dass das Publikum sehr dankbar ist, wenn man im Konzert über die Musik spricht, weil es dann erst einen Zugang bekommt. Vor ein paar Jahren hätten sich die Menschen vielleicht zu sehr belehrt gefühlt, aber heute wird das sehr geschätzt. Man muss ja nicht aus dem Klaviermusikführer rezitieren. Ich versuche immer, meinen persönlichen Zugang zu vermitteln. Ich teile, was mich begeistert. So kann ich dem Publikum offen gegenübertreten und die Distanz zwischen dem Künstler auf der Bühne zu den Hörenden überwinden.

Welche Rolle spielt das Publikum bei der Bewertung Ihres Spielerfolges?

Stadtfeld: Das Publikum versöhnt mich mit mir. Das ist etwas Wunderbares. Wenn ich fühle, ich habe mein Publikum erreicht, es hat mir Dankbarkeit zurückgegeben, wir sind am Ende verbunden gewesen, dann bin ich beruhigt. Dann muss ich mich nicht mehr in Selbstkritik zerfleischen und kann nach dem Konzert spazieren gehen, was ich gerne und oft tue.

Der coronabedingte Shutdown zog eine sehr lange Zeit ohne Publikum nach sich. Was genau hat Ihnen da gefehlt?

Stadtfeld: Das Live-Erlebnis ist nicht zu ersetzen. Digitale Kanäle zu nutzen, ist sinnvoll, funktioniert in der Arbeit mit Kindern und im Konzert aber nicht. Ein positiver Corona-Effekt, der auch noch anhält, ist der, dass ich mich öfter direkt ans Publikum wende. Das erste Mal hatte ich dieses starke Bedürfnis bei einem Autokinokonzert, wo ich nicht einfach so auf die Bühne gehen und meine Stücke spielen wollte. So kann man Nähe herstellen. Beim Streaming geht jedoch viel Spannung zwischen Künstler und Publikum verloren – beidseitig. Der Künstler spürt kein Publikum, das Publikum ist nicht in dem Spannungsfeld, in dem es sonst im Konzertsaal sitzt. Deshalb ist es so wichtig, dass die Säle wieder voll werden. Wenn die Leute so entfernt voneinander sitzen, leidet das kollektive Spannungsempfinden ebenfalls. Auch die inneren Beweggründe einer besonderen Interpretation kann man am Bildschirm nicht erfühlen. So anachronistisch es ist: Das Konzert ist das wunderbarste Medium, von sich selbst etwas zu vermitteln. Selbst mit einer Aufnahme geht es nur zu 80 Prozent.

Ärgern Sie sich auch manchmal über das Publikum?

Stadtfeld: Ja, wobei ich da „das Publikum“ in seiner Gesamtheit selten in Sippenhaft nehme. Ich ärgere mich über voreilige Klatscher! Wenn nach einem Konzert noch eine innerliche Zugabe erklingt, spüren alle, dass dies ein besonderer Moment der Stille sein könnte – und eine Person spürt es nicht und klatscht los! Aber auch da bin ich nicht nachtragend. Das Publikum ist eigentlich immer mein Freund.

Worauf wollen Sie als Jurymitglied bei der Bewertung eines Publikums achten?

Stadtfeld: Die Altersstruktur ist mir auf jeden Fall besonders unwichtig! Darüber wird in der letzten Zeit so viel gesprochen, als ob ein „junges Publikum“ schöner sei als jedes andere. Für einen Veranstalter ist es sicher eine Tugend, alle Altersgruppen ansprechen zu können. Für mich als Künstler ist es egal. Das Publikum stirbt schon nicht aus. Ich richte mich an alle, das ist die große Chance der Musik, nämlich ihre „anspruchsvolle Schwellenlosigkeit“. Man muss nichts wissen oder können, aber hellwach dabei sein.

Wenn Sie selbst im Publikum sitzen, genießen Sie dann die Musik oder fühlen Sie sich beruflich gefordert?

Stadtfeld: Ich gehe nicht oft ins Konzert, aber wenn, dann genieße ich es total. Es ist dann überhaupt nicht beruflich. Es macht mich glücklich, dass ich mal auf der anderen Seite bin. Ich habe eine andere „Haltung“, kann völlig loslassen und genießen, wenn die Zeit anhält.

Was müsste ein Publikum tun, damit Sie bestechlich in Ihrer Entscheidung werden?

Stadtfeld: Wir sind ja alle bestechlich und mit einem richtig tollen Rotwein ginge es womöglich. Ich habe aber natürlich den moralischen Anspruch, auch ohne Rotwein eine faire Wahl zu treffen.

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