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Blickwinkel: Wolf-Dieter Seiffert

„Musizieren gegen den Corona-Blues“

Während andere Musikverlage unter den Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie leiden, verzeichnet der G. Henle Verlag Rekordumsätze. Geschäftsführer Wolf-Dieter Seiffert erklärt, warum.

vonSören Ingwersen,

Herr Seiffert, der G. Henle Verlag steht seit über 70 Jahren für kritisch edierte Urtext-Notenausgaben von Komponisten, die vor über 70 Jahren verstorben sind. Damit sind die Werke gemeinfrei und jeder kann sie veröffentlichen. Wie können Sie sich gegenüber der Konkurrenz behaupten? Ein Buchverlag, der ausschließlich Klassiker wie Shakespeare, Goethe und Kafka veröffentlicht, würde wohl nicht lange überleben.

Wolf-Dieter Seiffert: Der G. Henle Verlag ist in der Tat der einzige klassische Musikverlag der Welt, der so gut wie keine Urheberrechte besitzt, welche das entscheidende Standbein anderer Musikverlage bilden. Wir hingegen leben ausschließlich vom sogenannten Papiergeschäft. Unsere Konkurrenz sind gar nicht so sehr jene Verlage, die dieselben Werke – teilweisen ebenfalls im Urtext – veröffentlichen, sondern das Internet, das das Kopieren und Downloaden so einfach macht. Überleben können wir nur durch unsere Produktqualität, die einen erheblichen Mehrwert gegenüber Fotokopien oder Ausgaben vieler anderer Verlage liefert: Schönheit und Dauerhaftigkeit. Wir legen Wert auf das beste Papier, die beste Bindung und Druckqualität und einen hervorragenden Umschlag. Ein Buch kann man nicht mit einer Notenausgabe vergleichen. Ein Buch wird bestenfalls einmal gelesen. Die Notenausgabe hingegen ist ein Tool, das Musiker und vielleicht noch nachfolgende Generationen ein ganzes Leben lang nutzen.

Mit einer Noten-App haben Sie aber auch den Sprung ins Digitale gewagt. Wie verträgt sich dieser Schritt mit dem Qualitätsanspruch des Verlags?

Seiffert: Das ist ein ganz harmonischer Übergang ins 21. Jahrhundert. Speziell die jüngere Generation unserer Kunden hat immer lauter nach so einer Möglichkeit gerufen. Ich bin sehr glücklich, dass wir nach einer zweijährigen Entwicklungsphase und einer Investition von über einer Million britische Pfund vor fünf Jahren die Henle Library App herausgebracht haben, die sehr gut angenommen wird. Wie das mit unserem wertkonservativen Image zusammenpasst? Sehr gut. Uns ist etwas gelungen, was anderen Verlagen nicht gelungen ist, weshalb viele Apps wieder vom Markt verschwunden sind. Denn für eine Art PDF, also den fixierten Scan einer Notenseite brauchen Musiker keinen Verlag. Den kann sich jeder selbst anfertigen. Die Henle Library App ist jedoch kein PDF-Reader. Sie bietet in jedem Ansichtsformat den originalen Henle-Notensatz und darüber hinaus viele digitale Tools, die beim gedruckten Format nicht zur Verfügung stehen. Neben dem Qualitätsaspekt steht hier klar der Nutzwert im Vordergrund.

Bekannte Solomusiker stellen für die Notenausgaben des G. Henle Verlags ihre Fingersätze und Strichbezeichnungen zur Verfügung. Warum übertragen Sie diese Aufgaben nicht einfach an einen versierten Musikpädagogen?

Seiffert: Als ich vor über zwanzig Jahren die Verantwortung als Chef übernommen hatte, wollte ich ein Signal nach außen geben, dass unsere Notenausgaben bis hinauf zu den bedeutendsten Musikern genutzt werden. Heute zählt – nur um einige ausgewählte Stars zu nennen – mit Evgeny Kissin, Frank Peter Zimmermann, Julia Fischer oder Steven Isserlis das Who’s who der Klavier-, Geigen- und Cellomusik zu „unseren“ Künstlern. Mit unserer App kann man sich sogar die Fingersätze und Strichanweisungen verschiedener Künstler anzeigen lassen oder all diese Ergänzungen, die nicht zum Urtext gehören, einfach ausblenden.

Haben Sie keine Angst, dass es Notenausgaben auf Papier in zwanzig Jahren möglicherweise gar nicht mehr geben wird?

Seiffert: Es gibt viele Vorteile des gedruckten gegenüber dem digitalen Notentext. Ein entscheidender Punkt ist der Geldbeutel. Unter unseren Kunden befinden sich viele Studenten, die sich kein iPad oder Tablet-PC leisten können. Papiernoten kaufen Sie zu einem relativ harmlosen Preis fürs ganze Leben, ohne dass Sie sich von technischen Dingen abhängig machen. Denn wenn Sie nicht aufpassen, ist im entscheidenden Moment der Akku leer oder das Gerät fällt auf den Boden und ist kaputt. Deshalb denke ich, die nächsten Generationen werden neben den digitalen auch weiterhin Papiernoten nutzen. Das Buch wurde vom E-Book-Reader ja auch nicht verdrängt.

Sie erwähnten eben den Namen Evgeny Kissin. Er ist der einzige lebende Musiker, dessen Kompositionen Sie verlegen …

Seiffert: Das hängt mit der persönlichen Freundschaft zwischen Evgeny Kissin und Familie Henle zusammen. Dass Kissin komponiert, wussten wir lange nicht. Mittlerweile haben wir vier Opera unterschiedlicher Gattungen von ihm veröffentlicht: Klavierstücke, eine Cellosonate, ein Streichquartett und eine Gedichtvertonung. Das ist die Orchidee in unserem Katalog, eine absolute Ausnahme.

Was viele gar nicht wissen: Der G. Henle Verlag veranstaltet seit zehn Jahren auch einen eigenen Klavierwettbewerb. Können Sie etwas zu den Rahmenbedingungen sagen?

Seiffert: Anfangs nur auf Deutschland ausgerichtet, wenden wir uns mit dem Wettbewerb inzwischen an Kinder ab sechs Jahren in der ganzen Welt. Die Hemmschwelle ist dabei sehr niedrig, weil die Kinder beim Vorspielen nicht auf der Bühne sitzen, sondern ihren Beitrag als Video für unseren YouTube-Kanal zur Verfügung stellen. In diesem Jahr hatten wir weit über 400 Teilnehmer. Jeder Beitrag wird von unserer Jury bewertet, und die besten Interpreten erhalten ein Preisgeld. Da wir gerade eine Urtext-Neuausgabe sämtlicher Haydn-Sonaten herausgebracht haben, konnten die Kinder in diesem Jahr einen Klaviersonatensatz aus Band eins zum Vortrag auswählen. Auffällig ist, dass die Mehrheit der Hochbegabungen, die wir entdecken, aus Asien stammt und die Preisträger verglichen mit denen vor zehn Jahren inzwischen auf einem deutlich höheren Niveau musizieren.

Viele Musikverlage trifft die coronabedingte Veranstaltungspause hart, weil sie einen Großteil ihrer Einnahmen mit GEMA-pflichtigem Leihmaterial, also zeitgenössischer Musik generieren. Haben Sie als Urtextverlag auch Einbußen durch Corona zu verzeichnen?

Seiffert: Im Gegenteil. Für uns ist die Krise ein enormer Vorteil. Wir hatten 2020 weltweit und speziell in den USA das beste Geschäftsjahr aller Zeiten mit enormen Absatzsteigerungen. Im ersten Quartal 2021 sehen wir eine Fortsetzung dieses Trends, weil die Menschen, die zu Hause bleiben müssen – ob Profi oder Amateur – sich auf das Wertvolle im Leben besinnen und viel mehr Zeit zum Musizieren haben. Es ist eine Art Musizieren gegen den Corona-Blues. Auch die App-Verkäufe gehen durch die Decke. Trotzdem sind wir sehr solidarisch mit den anderen Verlagen, weil unser Metier gesellschaftlich einfach zu wenig wahrgenommen wird. Viele Mitarbeiter anderer Musikverlage sind seit über einem Jahr in Kurzarbeit und produzieren auch keine neuen Noten mehr. Da blutet eine ganze Branche aus.

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