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Blind gehört Alexej Gerassimez

„Das erinnert mich an Omas Kochtöpfe!“

Alexej Gerassimez hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

„Das ist schon was Besonderes.“ Alexej Gerassimez treffen wir in einer Mischung aus Entspanntheit und Anspannung in Hamburg. Der Wahl-Berliner wird am Abend mit Martha Argerich auf der Bühne stehen und Bartók spielen – ein Stück, dass sein Lehrer Peter Sadlo mit der Grande Dame des Klaviers vor Jahren selbst aufgenommen hat. Trotz der anstehenden Aufregung gibt sich Gerassimez voll dem Zuhören hin, pausiert, erklärt, rät und wird trotz seiner Expertise vom einen oder anderen Track sehr überrascht.

Xenakis: Rebonds B

Christoph Sietzen (Percussion)
Genuin 2017

Xenakis, „Rebonds B“! Der größte Hit des Schlagzeug-Repertoires. Wenn du das nicht gespielt hast, bist du kein Solo-Schlagzeuger! (lacht) Sehr geradeaus, solide. Und der Vorschlag ist immer da, das ist sehr gut! (schnippt mit) Es wirkt absolut akkurat und texttreu, da würde ich auf die Neue-Musik-Szene tippen. Johannes Fischer vielleicht? Christoph Sietzen ist das? Das hätte ich nicht gedacht. Die großen Woodblocks, die er benutzt, waren ein Hinweis auf München und den Einflussbereich von Peter Sadlo. Er hat sie zum ersten Mal verwendet, diese Spielweise an seinen Schüler Bogdan Bacanu weitergegeben, der wiederum der Lehrer von Christoph war. Interessant, ich hätte gedacht, dass Christoph das viel freier spielt!

J. S. Bach: Konzert E-Dur BWV 1042, 1. Satz. Allegro

Simone Rubino (Vibrafon), La Chimera, Eduardo Egüez (Leitung)
La Musica 2020

Ist das Haydn? Irgendwie kennt man das doch – Bach! Ich dachte zuerst an Evelyn Glennie, aber das kann es dann nicht sein. Das ist sehr gut gespielt – ich bin mir nur nicht sicher, ob ich den Zusammenklang von Vibrafon und Orchester so mag. Alle feinen Noten sind da, die Linien sind gut, sehr schön. Ich kenne diese Aufnahme nicht. Simone Rubino hat Bach aufgenommen, aber er spielt eigentlich viel freier. Ist er das? Ich wusste gar nicht, dass er so ein Bach-Fan ist! Simone und ich haben beide bei Peter Sadlo studiert, das merkt man manchmal vielleicht auch – aber in der Repertoirewahl sind wir sehr unterschiedlich.

Rorem: Mallet Concerto, 2. Satz: Another Minotaur

Evelyn Glennie (Percussion), City Chamber Orchestra of Hong Kong, Jean Thorel (Leitung)
Naxos 2021

(überrascht) Ist das ein Glockenspiel-Konzert? Ist ja abgefahren! Ned Rorem? Noch nie gehört! Aber das klingt mir irgendwie nach Evelyn Glennie! Eine interessante Tonsprache, die sehr strukturiert ist. Glennie ist die Koryphäe auf unserem Gebiet. Alleine die Tatsache, dass sie so viele Schlagzeug-Konzerte uraufgeführt hat, ist unfassbar! Sie ist die erste klassische Percussion-Solistin und war schon früh ein großes Vorbild. Ich hatte als Kind zwei ihrer Alben, und ich war total beeindruckt von den Covern: Inszeniert mit vielen Instrumenten und dicken Tüchern, das sehe ich ganz klar vor mir. Das habe ich rauf und runter gehört! Was sie qualitativ schon damals abgeliefert hat, ist unfassbar – heute gehen wir im Schlagzeug-Genre in die Breite, da die Qualität einfach da ist. Das ist ihr zu verdanken: Sie hat uns allen aus dem Nichts den Weg geebnet.

Reich: Clapping Music

Colin Currie & Steve Reich (Body Percussion)
Colin Currie Records 2019 

„Clapping Music“, Steve Reich, Klassiker! Ist das seine eigene Aufnahme mit Järvi? Nein? Dann ist es Colin Currie! Das ist gar nicht mal so gut zusammen, aber die Frage ist ja auch, ob man das überhaupt will. Die Idee hinter dem Stück ist die Reduktion. Beim Schlagzeug hast du unendliche Möglichkeiten, du kannst alles machen. Wenn du dich aber selbst in Instrumentierung oder Kompositionsweise limitierst, wird es spannend. Dann musst du kreative Wege finden und Liebe zum Detail beweisen. Das Thema Body-Percussion habe ich auch abgegrast und ein Solo-Stück, ein Quartett und ein Quintett geschrieben. Die faszinierende Frage ist: Was kann man aus dem Material „Körper“ an Klang herausholen? Und vor allem: Wie?

Psathas: View from Olympus, 1. Satz: Furies

Mark Taddei (Percussion), Michael Houstoun (Klavier), New Zealand Symphony Orchestra, Pedro Carneiro (Leitung)
Rattle 2006

John Psathas, „View from Olympus“ – das ist die einzige Aufnahme, die es gibt und sie ist einfach großartig! Ich habe das Stück erst kürzlich in Griechenland gespielt. Es ist so schwer, es gibt viele Linien und Klänge, die sich ineinander verzahnen; es gibt repetitive Stellen, bei denen sich aber nie etwas wiederholt, ein Horror zum Auswendiglernen! Den Schlagzeuger kenne ich nicht, aber er macht das toll! Bei John habe ich ein Schlagzeugkonzert in Auftrag gegeben, dass ich im Oktober 2021 in Berlin uraufführen werde. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass ich ihn für Europa entdeckt und hier auch bekannt gemacht habe. Ich wollte unbedingt „View from Olympus“ spielen – was 2009 gemeinsam mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin und Kristjan Järvi auch geklappt hat. Danach habe ich einige kleinere Werke von ihm aufgenommen, und langsam verfallen alle dem John-Psathas-Fieber! (lacht) Seine Musik ist leidenschaftlich, ohne cheesy zu sein, ein musikalischer Mix, der sich nirgendwo einordnen lässt!

Gerassimez: Eravie

Alexej Gerassimez (Marimba)
Genuin 2012

(sofort) „Eravie“! Wow, spielt der leise, ganz zaghaft … Das bin doch ich! Ein sehr persönliches Stück. (hört lange zu) Als ich das geschrieben habe, ging es mir emotional nicht gut und all mein Weltschmerz ist in die Musik geflossen. Vielleicht hört man das auch. Da mein Vater Leiter des Kirchenchores war, bin ich mit Chorgesang aufgewachsen. Es ist ein Klang, der mir sehr nahe ist und den ich sehr mag. Dieses Stück ist meine Art, der menschlichen Stimme am Nächsten zu kommen. Es ist sogar als Chorsatz notiert mit Sopran, Alt, Tenor und Bass, wobei alle Stimmen wie bei Bach unabhängig voneinander sind und einen eigenen Charakter haben. So gewinnt die Musik an Tiefe. 

Bartók: Sonate für zwei Klaviere und Percussion, 3. Satz: Allegro non troppo

Martha Argerich & Nelson Freire (Klavier), Peter Saldo & Edgar Guggeis (Percussion)
Deutsche Grammophon 1994

Peter Sadlo, Edgar Guggeis, Nelson Freire und Martha Argerich! Die Aufnahme kenne ich richtig gut, unfassbar musikalisch! Peter hat mir viel von diesem Projekt erzählt. Er sprach immer davon, wie stark Martha Argerich in der Musik lebt und verwurzelt ist. Wir als Schlagzeuger sind in der Kammermusikszene nicht wirklich vertreten, da es kaum Repertoire abseits von Bartók und Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ gibt. Die Zusammenarbeit mit richtig guten Musikern reißt dich mit und trägt dich höher. Aber wenn man im eigenen Bereich sehr weit vorne mitspielt, ist es schwer, jemanden zu finden, der das schafft. Generell fühle ich mich da sehr privilegiert: Ich habe viel Kammermusik machen dürfen und habe das große Glück, in Peters Fußstapfen zu treten und ebenfalls mit Martha Argerich und anderen herausragenden Kollegen konzertieren zu können.

Fink: Ostenati Machina

Polyrhythmia Ensemble Sofia
Bella Musica Edition 1992

Das ist auf jeden Fall ein Ensemble. Ich mag die Klänge, das erinnert mich an Omas Kochtopfmusik! (lacht) Da habe ich als Kind auch immer drauf rumgetrommelt! Das Stück ist sehr minimalistisch, das Eingangsmotiv finde ich genial! Es klingt nach Steve Reich, es muss älter sein. Wow, das überrascht mich echt, was kann das sein? Es hört sich so an, als würde jemand nebenan Xylofon-Etüden üben! Siegfried Fink ist das? Finki?! Ich wusste gar nicht, dass er so was geschrieben hat, das fällt total aus seinem Stil heraus. Wie interessant! Der Anfang ist super, aber dann passiert nicht mehr viel, es wird ein bisschen statisch, mir fehlt die musikalische Verwandlung, die Minimal Music oft bringt. Vielleicht ist das aber auch der Ostinato-Gedanke, den er damit aufgreift. Als Zwischenmusik im Konzert könnte ich mir das gut vorstellen!

Piazzolla: Libertango

Fumito Nunoya (Marimba), Momoko Shano (Klavier)
Oehms 2016

Das klingt ganz ähnlich wie mein Stück „Piazonore“, eine Variation auf Piazzollas „Libertango“. Es ist grundsätzlich gut gespielt, aber er oder sie ist sich nicht ganz klar darüber, was dieses Stück eigentlich sein soll. Ist es ein Tango oder nicht? Für einen Tango ist es zu schnell. Mein „Piazonore” will zum Beispiel gar kein Tango mehr sein, deshalb kann man das Stück viel schneller spielen. Hier finde ich das hingegen eher unpassend. Ist das ein Japaner? Fumito? Von ihm habe ich mal ein Solo-Album gehört, er hat sich auf Marimba spezialisiert. Marimba aufzunehmen ist sehr schwierig, es geht wahnsinnig viel Wärme verloren – aber dennoch hat er einen schönen Klang geschaffen.

Sumner: Message in a Bottle

The Wave Quartet
Sony 2019

Das klingt wie ein Popsong! Man denkt sofort, dass man das schon ganz oft gehört hat, aber man kommt nicht drauf, was es sein könnte. Das Wave Quartet von Bogdan Bacanu? Aber welcher Song ist das – können wir den im Original hören? Das ist doch Sting, also Gordon Sumner! Seine Stimme ist einfach unverkennbar! Da kommt doch keiner drauf, dass es ein Arrangement von „Message in a Bottle“ ist! Niemals! Total dekonstruiert! Mir stellt sich bei so was immer die Frage: Nimmt man mit so einem Arrangement einem Song nicht die Seele? Denn was ist ein Song? Er ist viel mehr als bloße Harmonien, er ist ein Gefühl, das durch die Farben der Musik, der Stimme und des Textes entsteht. Ein Arrangement muss aus sich heraus einen neuen Blickwinkel eröffnen – ich bin mir nicht sicher, ob das hier funktioniert, obwohl es künstlerisch gut umgesetzt ist. 

Eötvös: Speaking Drums, 2. Satz Nonsens Songs

Martin Grubinger (Percussion), Orchestre Philharmonique de Radio France, Peter Eötvös (Leitung)
Alpha Classics 2016

Pauke mit Becken darauf? (Stimme setzt ein) Was? Das klingt total archaisch, wie ein Tier! Ist das „Speaking Drums“? Ich habe es noch nie ganz gehört, deshalb war ich mir unsicher. Ist das Martin? Ein richtig gutes Stück, das ich auch gerne mal spielen würde. Ich mag die Ganzheitlichkeit, das Einsetzen des gesamten Körpers, die Verbindung von Spiel und Sprache. Man ist viel auf der Bühne unterwegs. All das bringt dich raus aus deiner Comfort Zone, du musst ganz darin aufgehen. Es passt sehr zu Martin, der ein energetischer Alles-oder-nichts-Typ ist – das ist ein Stück, bei dem man sich angstfrei die Klippe hinunter stürzen muss. Und das macht er perfekt!

CD-Tipp

Album Cover für Starry Night

Starry Night

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