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Blind gehört Alice Sara Ott

„Cortot ist wie ein guter alter Whiskey“

Die Pianistin Alice Sara Ott hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer spielt

vonJakob Buhre,

„Ich hoffe nur, dass ich die Kollegen nicht erraten muss“, scherzt Alice Sara Ott zu Beginn des Treffens in einem Konferenzraum ihrer Plattenfirma in Berlin. Doch dann hat die 26-jährige deutsch-japanische Pianistin beim Hören mitunter recht schnell die richtigen Namen parat – und gerät bei großen Vorbildern ins Schwärmen.

Mozart: Klavierkonzert Nr. 13 & 24 

Martin Helmchen (Klavier), Netherlands Chamber Orchestra, Gordan Nikolić (Leitung).

2007, Pentatone Classics

Daraus: Nr. 13 C-Dur, 1. Satz

Oh, die Staccatti und Arpeggii am Anfang, das ist natürlich ein Statement! Das hat ein bisschen einen romantischen Touch, und die Verzierung hier, das habe ich so noch nicht gehört. Ach, das ist Martin Helmchen? Wirklich? Ich finde, das hier ist keine allzu übliche Art und Weise, das ganze anzugehen. Wie er artikuliert, wie er die ganzen Ornamente macht, bei der Dynamik geht er mehr in Extreme, bringt Sachen stärker raus. Ich finde, er schafft es, aus diesem einfachen, schlichten Konzert etwas sehr Starkes zu machen. Das ist eine Mozart-Interpretation, die man so schnell nicht vergisst. Über Mozart kann man natürlich ewig diskutieren, wo viele Werke so einfach und schlicht geschrieben sind – da gibt es tausend Interpretationsmöglichkeiten. Ich selbst habe noch gar nicht so viel Mozart gespielt, mich nicht herangetraut, eben weil es so „nackte“ Musik ist. Jedes Kind würde Mozart spielen, weil es denkt, es ist einfacher als Chopin. Aber das ist natürlich ein Trugschluss.

Great Recordings Of The Century

Arturo Benedetti Michelangeli (Klavier), Philharmonia Orchestra, Ettore Gracis (Leitung).

1958/2000, EMI

Daraus Ravel: Klavierkonzert G-Dur, 2. Satz

Ich glaube, das ist Michelangeli. Den 2. Satz, den spielt keiner so wie er. Das ist ein so schwieriges Stück, weil es sehr schnell auseinanderfallen kann. Da einen großen Bogen zu spannen, ist eine immense Arbeit. Er spielt es unglaublich langsam, aber es klingt wie das Natürlichste auf der Welt. Ich saß da wirklich Stunden dran und habe versucht, das in einem ähnlichen Tempo zu spielen. Das ist meiner Meinung nach genau so, wie Ravel es wollte. Diese Einfachheit, Natürlichkeit, diese Beseeltheit, die versucht man natürlich zu erreichen. Ich kenne keine Aufnahme von Michelangeli, die ich nicht mag. Und alle, wirklich alle Kollegen, die ich treffe, sagen das. Zuletzt habe ich mit Michail Pletnjew gespielt, und er meinte auch: Michelangeli!

 

Beethoven: Klaviersonaten 16 – 18

Alfred Brendel (Klavier)

1993. Philips

Daraus: Sonate Nr. 17 d-Moll op. 31 Nr. 2 „Der Sturm“

Das ist sehr langsam, sehr verinnerlicht, sehr expressiv, man hört, dass viel Gewicht auf jede einzelne Note gelegt wird. Kann ich den dritten Satz einmal hören? Oh, da ist schon relativ schnell. Das Stück ist eigentlich nicht schnell geschrieben, es steht nur Allegretto drüber. Ich hatte die Sonate vor kurzem selbst im Konzertprogramm. Den dritten Satz spiele ich langsamer. Ich würde es auch nicht als ein sehr wuchtiges Stück auffassen. Ich benutze auch viel weniger Pedal. Wenn man am Anfang das Pedal im fünften Finger liegen lässt, dann ist das nicht wie es in den Noten steht, da ist der Schwerpunkt auf dem dritten Finger, auf dem zweiten Ton in der linken Hand, so sind auch die Bögen geschrieben. Das hier hat einen anderen Charakter, es ist eine andere Sichtweise. Für mich ist die Sonate schon sehr nah an Shakespeares Sturm angelegt. Der erste Satz, das ist diese Traumwelt, wo Prospero seine ganzen magischen Kräfte anwendet. Den Anfang in A-Dur spiele ich leiser, um dann auch den Unterschied größer zu machen, wenn es ins d-Moll übergeht. Aber das ist meine derzeitige Auffassung des Stücks. Ich finde es generell sehr schwer, andere Interpretationen aus objektiver Sicht zu beurteilen, wenn man sich selbst mitten im Erarbeitungsprozess eines Stückes befindet. Wer spielt das? Brendel? Mein Lehrer hat Brendel sehr geschätzt. Er hat mit uns oft Abende gemacht, wo wir ein Stück richtig auseinandergenommen und verschiedene Interpretationen nebeneinandergelegt haben. Und eine Aufnahme von Brendel war immer dabei.

 

Resonances

Hélène Grimaud (Klavier)

2010, Deutsche Grammophon

Daraus Bartók: 6 Rumänische Volkstänze Sz 56 

Das Stück habe ich zuletzt gespielt, als ich acht Jahre alt war. Mein erster Lehrer war Ungar. Ich glaube, hier steckt eine starke Persönlichkeit dahinter. So wie das anfängt, also vom Anschlag her, da hätte ich jetzt auf Hélène Grimaud getippt. Ich habe sie mehrfach live gehört, sie hat eine sehr starke linke Hand. Ich selbst neige auch dazu, die linke Hand sehr hervorzuheben, deswegen erkenne ich so etwas.

The Early Rias Recordings

Friedrich Gulda (Klavier)

1959/2009, Audite

Daraus Chopin: Nocturne c-Moll op. 48 Nr. 1

Das ist hingegen sehr rechtsorientiert. Aber es gefällt mir. Oh, was ist das? Die Stelle mit dem hohen C, kann ich die nochmal hören? Das ist keine sehr moderne Aufnahme, oder? Zumindest klingt das nicht nach einem Instrument, wie wir sie heute in den Aufnahmestudios haben. Das hat ein paar Schwächen im Diskant – was ich total schön finde. Heutzutage wird ja meistens ein gewisser stereotyper Klang erfordert und man neigt dazu, das Klavier bis aufs Extremste eben zu stimmen. Da spielt eine aufbrausende Person, das merkt man daran, wie sich die Dynamiken entfalten. Ein schönes Tempo. Ich mag es, dass hier die linke Hand unglaublich zart ist und die rechte sehr glänzt. Ist das ein Pole? Gulda? Interessant. Ich habe noch nie Chopin von ihm gehört. Vor einer Minute, bei der aufbrausenden Passage, da hätte ich noch auf Martha Argerich getippt. Aber jetzt macht das Sinn: Gulda war ja lange Zeit ihr Mentor gewesen, sie hat viel von ihm gelernt und viel Zeit mit ihm verbracht.

Chopin: Préludes, Impromptus, Barcarolle, Berceuse

Alfred Cortot (Klavier)

1949/2006, EMI

Daraus: Prélude cis-Moll op. 45 Nr. 25

Das ist Cortot. Ich habe mich in seinen Klang und in seinen Anschlag wirklich verliebt. Ich kann ihm stundenlang zuhören, danach habe ich dann das Gefühl, ich hätte einen guten alten Whiskey getrunken. Das versetzt mich in eine andere Zeit. Seine Chopin-Walzer habe ich sehr oft gehört. Er macht Fehler in seinen Aufnahmen, er ist nicht perfekt, er haut auch mal daneben – aber das stört einen nicht, weil der Fluss stimmt, die ganze Geschichte, die er einem erzählt. Auch wie er Zeit empfindet, wie er atmet, das ist von einer unglaublichen Freiheit und trotzdem noch im Herzrhythmus. Er hat eine sehr spezielle Rhythmik, manchmal fällt es total aus dem Takt, aber trotzdem merkt man, dass der Körper da noch mitmacht.

Kapustin: Variations op. 41

Nikolai Kapustin (Klavier)

2004, Triton/Octavia Records

Ist das ein Ragtime? Das kenne ich nicht. Aber schön! Kapustin? Ich kenne nur die Etüden von ihm. Vor etwa fünf Jahren haben ja alle Kapustin gespielt, das war die neue Entdeckung. Es gibt ein Stück von ihm, dass ich gerne mal spielen würde, aber ich bin nicht so ein Freund davon, auf einer Welle mitzureiten. Ich mag seine Musik, man braucht dafür aber eine gewisse Begabung. Als klassischer Pianist hat man eine ganz andere Herangehensweise. Es sei denn, man hat dieses Talent, stundenlang herum zu improvisieren. Ich denke, das ist bei Kapustin wie bei Gershwin: Man braucht ein bestimmtes Feeling, um das interpretieren zu können, man muss das im Blut haben. Rhapsody in Blue zum Beispiel – das kann nicht jeder spielen.

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