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Blind gehört Antje Weithaas

„Da fehlt mir die Fratze“

Die Geigerin Antje Weithaas hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer spielt.

vonJohann Buddecke,

Gleich zu Beginn des Treffens mit Antje Weithaas im Berliner Büro ihrer Künstleragentin sorgte die Technik für zwei kurze Schreckmomente: Zunächst ließ sich der Laptop mit der Playlist für das „Blind gehört“-Interview nicht mit der Abspielanlage verbinden. Dann, als dies nach einigen Versuchen doch gelang, war die Playlist ganz verschwunden. Als wäre nichts gewesen, nahm es die Geigerin nach dem plötzlichen Wiederauftauchen der Aufnahmen gelassen und lauschte gespannt der Musik.

Album Cover für Bach: Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002 – Allemande

Bach: Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002 – Allemande

Christian Tetzlaff (Violine)
Ondine 2017

Natürlich erkenne ich das Stück schon einmal. Es ist auf jeden Fall mit normaler Tonhöhe auf einer modernen Geige gespielt. Ist das jemand, den ich gut kenne? Es gefällt mir jedenfalls sehr gut. Es ist ein anderer Ansatz als meiner, was natürlich legitim ist. Es ist sehr lebendig, vor allem in den Punktierungen. Sehr kreativ! Diese harmonische Halbtaktigkeit kommt wirklich toll heraus. Ich würde es ein bisschen mehr serioso denken, also ein kleines bisschen getragener. Trotzdem: sehr schön! Ich denke, es ist Christian. Ich kann es am Klang hören, an seiner Lebendigkeit und an der Freiheit im Detail, die total für ihn spricht. Es ist alles nachvollziehbar, die harmonische Struktur ist gut erkennbar. Da kann ich gar nicht viel meckern. Christian ist einfach ein intelligenter Geiger. Fast peinlich, dass ich die Aufnahme noch nie gehört habe.

Ysaÿe: Violinsonate Nr. 4 op. 27 Allemanda – Lento maestoso

Maxim Vengerov (Violine)
Warner Classics 2002

Ah, jetzt kommt Ysaÿe! Als Virtuosenstück sehr gut gespielt, gar keine Frage. Mir fehlt ein bisschen Klarheit in den Arpeggien am Anfang, aber es beruhigt mich, dass die bekannte unangenehme Stelle auch nicht ganz sauber gespielt ist (lacht). Wer kann das sein? Ist das Frank Peter Zimmermann? Nein, dafür ist es zu muskulös. Aber in jedem Fall ein Mann! Russische Schule! Also wenn ich ehrlich bin, fehlt mir etwas die Vielschichtigkeit, die eigentlich in diesem Satz steckt. Es ist auf geigerischen Schönklang und Effekt gespielt. Mit noch ein bisschen mehr Risikobereitschaft könnte es mehr zu Herzen gehen. Wer ist es denn nun? Ach, Maxim Vengerov. Ein toller Geiger, da beruhigt mich die unsaubere Passage fast noch mehr!

Brahms: Violinkonzert – Allegro giocoso

Gidon Kremer (Violine), Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein (Leitung)
Deutsche Grammophon 1983

Beeindruckend spritzig! Wow! Ich glaube, es ist der schnellste dritte Satz aus diesem Violinkonzert, den ich jemals gehört habe. Ich könnte mir ein giocoso, ma non troppo auch etwas langsamer vorstellen. Wer könnte das denn so spielen? Ach, jetzt kommt doch noch das ruhige Tempo. Es ist bestimmt eine ältere Aufnahme. Hier wird die Virtuosität doch sehr in den Vordergrund gerückt. Allerdings gekonnt! Das Orchester scheint mir etwas gestresst zu sein. Vom Ton könnte ich mir vorstellen, dass es Gidon Kremer ist. Es passt zu ihm. Das Tempo ist kaum noch zu spielen! Dennoch ist es wirklich toll gemacht.

Album Cover für Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll – 1. Allegro

Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll – 1. Allegro

Anne-Sophie Mutter (Violine), Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (Leitung)
Deutsche Grammophon 1981

Sehr elegisch gedacht. Ich empfinde das Stück etwas anders, aber ich versuche mich darauf einzulassen. Für mich könnte es viel mehr agitato haben und viel fliegender sein. Auch im Orchester fehlt mir die innere Lebendigkeit. Ich habe keine Ahnung, wer es spielen könnte. Es ist aber nicht Anne-Sophie Mutter? Mit Karajan? Okay, na gut. Das war eine andere Ästhetik. Ich nehme mal an, das Tempo hat Herr Karajan vorgegeben. Trotzdem finde ich es sehr natürlich gespielt. Es ist ehrlich empfunden!

Album Cover für Beethoven: Violinsonate „Kreutzer“ – 1. Adagio sostenuto

Beethoven: Violinsonate „Kreutzer“ – 1. Adagio sostenuto

Yehudi Menuhin (Violine), Wilhelm Kempff (Klavier)
Deutsche Grammophon 1970

Erkennen Sie die Melodie? (lacht) Das muss eine alte Aufnahme sein. Es ist die Ästhetik des Geigenspiels von vor über vierzig Jahren. Jeder Ton bis zum Ende vibriert, das macht man heute deutlich anders. Das rhetorische Moment war damals einfach nicht so wichtig. Ich würde mir mehr Griffigkeit im Klavier wünschen, die Geige klingt sehr schön. Die Dämonie, die ich zum Beispiel im Presto-Teil höre, ist, denke ich, gar nicht gewollt. Für mich herrscht zu wenig Risikobereitschaft. Aber das ist alles der Zeit der Aufnahme geschuldet. Der Geigenklang ist sehr schön rund. Für Oistrach ist es zu viel Vibrato. Es geht eher in die amerikanische Richtung. Es ist Menuhin? Das überrascht mich dann doch!

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Album Cover für Dvořák: Violinsonate F-Dur op. 57 – 3. Allegro molto

Dvořák: Violinsonate F-Dur op. 57 – 3. Allegro molto

Antje Weithaas (Violine), Silke Avenhaus (Klavier)
CAvi 2011

Ich hoffe, es ist nicht meine Aufnahme? Das ist so witzig, weil wir dieses Stück höchstens zweimal vorher im Konzert gespielt haben und es dann aufgenommen haben. Neulich erst habe ich das Stück im Radio gehört und gedacht, dass ich es irgendwoher kenne. Ich kam aber einfach nicht mehr drauf. Es war mir nicht mehr klar, dass ich es aufgenommen habe. Immerhin fand ich es nicht schlecht, sodass ich am Ende ganz beruhigt war, als der Moderator sagte, dass es meine Aufnahme war. Es ist ein wunderschönes Stück. Schade, dass es so selten gespielt wird.

Bartók: Violinsonate g-Moll Sz. 117 – 2. Fuga

Isabelle Faust (Violine)
harmonia mundi 2010

Sehr intelligent gespielt. Das ist Isabelle Faust. Sehr nobel und wirklich durchdacht, was bei dem Stück auch mehr als notwendig ist. Oft hört man das Stück zu rabiat. Das ist hier ganz anders. Es ist sehr klar gespielt, die Intonation ist bestechend. Gerade bei dieser Fuge, die oft so chaotisch daherkommt, kann man hier wirklich die Stimmführung verfolgen und auch das Timing stimmt. Mehr bracht man dazu nicht sagen. Großartig!

Album Cover für Schubert: Klaviertrio Nr. 2 op. 100 D 929 – 1. Allegro

Schubert: Klaviertrio Nr. 2 op. 100 D 929 – 1. Allegro

Trio Wanderer
harmonia mundi 2008

Ich überlege, welches Trio es sein könnte. Es ist sehr gut gespielt und toll aufeinander abgestimmt mit einem schönen Ton, vielleicht etwas zu geradeheraus. Mir gefällt Schubert mit etwas mehr Binnenagogik besser. Ist es ein französisches Trio? Das wundert mich. Die große Zerbrechlichkeit, die in dem Stück enthalten ist, fehlt mir. Alles ist irgendwie vorhersehbar. Bei Schubert wünsche ich mir dann doch etwas mehr Abgrund.

Album Cover für Franck: Violinsonate A-Dur FWV 8 – 1. Allegretto

Franck: Violinsonate A-Dur FWV 8 – 1. Allegretto

Renaud Capuçon (Violine), Khatia Buniatishvili (Klavier)
Erato 2014

Aha! Das Klavier hat eine unglaublich schöne Atmosphäre in den Eingangstakten. Es ist wunderschön verhangen, sehr langsam. Der Geiger ist dagegen wirklich sehr direkt, da geht der impressionistische Anstrich des Stückes ein wenig verloren. Die Klangästhetik im Klavier klingt fast nach einer alten Aufnahme, die Geige hingegen sehr modern. Alles ist sehr farbenreich. Dennoch, der Kontrast zwischen beiden Instrumenten ist extrem. Vielleicht sind es zwei Leute, die sonst nicht zusammenspielen? Diese leichten Pfefferminzakkorde hätte man ein bisschen mehr färben können. Renaud Capuçon und Khatia Buniatishvili? Jetzt bin ich baff! Renaud hätte ich noch erraten, aber auf Khatia wäre ich nie gekommen.

Album Cover für Schostakowitsch: Klaviertrio Nr. 2 – 2. Allegro con brio

Schostakowitsch: Klaviertrio Nr. 2 – 2. Allegro con brio

Joan Rodger (Klavier), Beaux Arts Trio
Warner Classics 2005

Das ist sehr obsessiv gespielt. Ich würde sagen, dass es kein russisches Trio ist. Dann würde man nämlich eine andere Artikulation hören. Die Obsession entsteht hier durch das Tempo. Ich könnte mir den Satz auch verzweifelter und sarkastischer vorstellen. An einigen Stellen ist es durchaus ironisch, da fehlt mir aber die Fratze! Ein bisschen mehr Dämonie wäre sicher nicht schlecht.

Album-Tipp

Album Cover für Tschaikowsky: Violinkonzert & Streichquartett Nr. 3

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