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Blind gehört Antoine Tamestit

„Grausam, wer spielt denn so?“

Der Bratschist Antoine Tamestit hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

„Ich hoffe, dass ich wenigstens einen Kollegen erkenne …“, beginnt Antoine Tamestit unser Interview in Berlin. Dem Franzosen, der für seinen feinen Ton und ausgereifte Interpretationen weltweit geschätzt wird, scheint der große Auftritt fremd zu sein: Er wählt seine Worte mit Bedacht, unterstreicht seine Aussagen mit gedämpften Gesten. Anfangs zurückhaltend, doch im Verlauf des Gesprächs immer emotionaler werdend, spielt er am Ende überraschend „Luft-Bratsche“. Gerade ist er aus Essen angereist und freut sich auf zwei Dinge: den kommenden Abend, an dem er im Club Watergate sein Instrument gegen einen lokalen DJ antreten lassen wird; und – ganz Franzose – auf das anstehende Mittagessen, für das er extra viel Zeit eingeplant hat.

Hindemith: Sämtliche Werke für Viola Vol. 1

Tabea Zimmermann (Viola)

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin

Hans Graf (Leitung), 2013. myrios classics

Daraus: „Schwanendreher“, 1. Satz

Tabea Zimmermann. Die neue Aufnahme – ich höre sie gerade zum ersten Mal! (hört sehr lange, sehr konzentriert) Ich erkenne Tabea bereits an der 1., 2. oder 3. Note. Mich überrascht immer, dass ich mich immer noch als ihren Schüler sehe – von allen Bratschern war und ist sie diejenige, die ich am meisten verehre. Ich schätze die Phrasierung und die Eleganz. Aber ich bin überrascht: Wir spielen komplett verschieden! Am Schwanendreher habe ich viel mit ihr gearbeitet, sie hat mich da sehr inspiriert. Bald erscheint meine Aufnahme, die ich gar nicht so sehr als „meine Version“ ansehen möchte. Und dennoch gehe ich einen gänzlich anderen Weg. Vielleicht ist das auch eine Frage des Alters: Tabea hat mit den Jahren eine Art Gelassenheit, etwas Vornehmes bekommen. 

Hindemith: Werke für Viola d’amore 

Gunter Teuffel (Viola)

2013. Hänssler Classic

Daraus Stamitz/Hindemith: Sonate für Viola d’amore 

Das ist nicht nur Viola, ist da auch eine Viola da Gamba? Viola d‘amore – ah, gleiche Familie! Das kommt aus dem Barock! Das ist Gunter Teuffel? Ich habe schon von ihm gehört, aber ihn noch nie spielen hören. Viola d‘amore ist so empfindsam und hat eine ganz eigene Resonanz. Ich wurde mit 12 oder 13 komplett in ihren Bann gezogen, als ich den Film „Tous les matins du monde“ (Die siebente Saite) sah. Er handelt vom Leben des Marin Marais, gespielt von Gérard Depardieu, der Soundtrack stammt von Jordi Savall. Ich war so begeistert, dass ich sogar überlegte, zur Viola da Gamba zu wechseln, und bis heute kaufe ich alle Alben von Jordi Savall! (lacht) Das Stück heißt wirklich Sonate für Viola d‘amore, obwohl da eine ganze Musikergruppe mit dabei ist? Das ist der klassische Carl Stamitz? Das Stück kannte ich noch gar nicht. Aber jetzt kaufe ich mir wahrscheinlich die CD, denn es ist natürlich sehr interessant, dass Hindemith Basso-continuo-Arrangements für Stamitz und Biber geschrieben hat! 

White Nights: Viola Music from Saint Petersburg

Tatjana Masurenko (Viola), Roglit Ishay (Klavier)

2011. Profil Medien

Daraus Glinka: Violinsonate d-Moll, 1. Satz

(ohne zu zögern) Glinka-Sonate, 1. Satz – das ist so wunderschön! Ich habe sie diesen Sommer nach 15 Jahren Pause wieder gespielt und, oh, es ist so ein traumhaftes Stück! So poetisch! (Die Bratsche setzt ein, ergriffen) Ich glaube, das ist jemand, der ziemlich jung ist, vielleicht um die 30. Einen älteren Musiker wie Bashmet, Primrose oder Imai würde man sofort erkennen. Heutzutage gibt es immer mehr hochtalentierte Violaspieler, die diese virtuose Gelassenheit haben, schnelle Finger, direkten Ton, weniger traditionell, weniger langsam. Eine Frau? Aus Deutschland? Und nicht zu jung? Ist das etwa Tatjana Masurenko? Dann lag ich ja komplett falsch! Da würde sie sich ja über das Kompliment freuen! (lacht) Jetzt überrascht mich das auf der anderen Seite aber überhaupt nicht: Sie ist Russin, lebt aber in Deutschland – das führt hier zu einer wunderbaren Ausgewogenheit, nicht zu geradlinig deutsch, nicht zu schwelgerisch russisch. Das ist eine echte Überraschung – das heißt aber auch, dass ich ihre Aufnahmen nicht genug gehört habe, sondern eher als Kammermusikpartner neben ihr saß. 

Beethoven: Gassenhauer-Trio 

Nils Mönkemeyer (Viola), Maximilian Hornung (Violoncello), Nicholas Rimmer (Klavier)

2013. Sony Classical 

Daraus: 3. Satz

Ich habe diese Aufnahme und dieses Stück noch nie gehört … aber ich erkenne Klavier, Viola und Violoncello. Das ist ja per se eine ungewöhnliche Kombination (lacht). Der dritte Satz eines Trios? Ist das Beethoven? Das Gassenhauer-Trio? Das funktioniert gut mit Viola und Cello! Ich finde, solange eine Transkription etwas Neues und Interessantes bringt und das Stück nicht zerstört, funktioniert sie auch. Das ist sehr gut gespielt und der Bratscher hat kein Problem mit der Höhe. Die Viola kann in den hohen Registern schnell gequetscht, fast gewürgt klingen, aber er hat einen nahezu blumigen Ton auf der A-Saite. Das ist tatsächlich die neue CD von Nils Mönkemeyer? Ich wollte es ja vorher nicht sagen, aber ich habe es mir an einer Stelle schon gedacht. (lacht) Er hat eine ganz eigene, freie, manchmal fast improvisierende Art, bestimmte virtuose Passagen zu spielen. Nils ist immer so lebendig, er lacht ständig, ein sehr fröhlicher Mensch – und das hört man hier absolut!

Bruch: Doppelkonzert

Miguel da Silva (Viola), Guillaume Sutre (Violine), Orchestre de Bretagne, Stefan Sanderling (Leitung)

2010. Transart

Daraus: 1. Satz

Das ist das Bruch-Doppelkonzert in der Fassung für Violine und Viola. Ich habe das Stück noch nicht gespielt, würde es aber gerne sowohl mit Violine als auch mit Klarinette erarbeiten. Sehr romantisches Spiel, aber überzeugend. Beide Spieler in gleicher Richtung, das Orchester steht ein wenig zurück. Kann ich noch mal den Anfang hören? Ich weiß weder, welche Fassung das ist, noch wer spielt. Das sind Miguel da Silva und Guillaume Sutre? Beide spielen im Quatuor Ysaÿe! Das ist schön. Ich habe von Anfang an gefühlt, dass Violine und Viola hier eine Einheit bilden. Die beiden musizieren seit ungefähr 20 Jahren im Quartett – mit gleicher Bogenführung, gleichen Farben … Für ein Solostück wie dieses bringt das neue, interessante Aspekte. Man braucht eine gute Verbindung – ich würde das nur mit einem Freund spielen wollen. 

Arpeggione & Lieder

Antoine Tamestit (Viola), Markus Hadulla (Klavier)

2010. naïve

Daraus Schubert: Arpeggione-Sonate, 1. Satz

(schaut irritiert, hört lange zu) Bin das ich? Oh, was für ein gemeiner Trick. Grausam, wer spielt denn so? (lacht) Puh, ich bin erleichtert, dass ich das erkannt habe! Das ist ein Stück, das ich schon mit zehn oder elf spielen wollte, als ich das noch gar nicht konnte. Meine musikalischen Entscheidungen in diesem Stück sind dementsprechend über einen langen Zeitraum gewachsen. Ich mag das Programm dieser Aufnahme: Mir ging es nicht um Virtuosität, sondern um Gesanglichkeit und Geschichtenerzählen. Der zweite Satz der Arpeggione funktioniert wie ein Lied – kein Wunder, dass ich sie aufgenommen habe mit einem Pianisten, der auf Liedbegleitung spezialisiert ist! Nach und nach hat er mir vieles erklärt. Markus ist mein „Tüpfelchen auf dem i“!

Asturiana – Songs from Spain and Argentina

Kim Kashkashian (Viola), Robert Levin (Klavier)

2007. ECM Records

Daraus de Falla: „Asturiana“

(beim ersten Viola-Ton) Das ist Kim. (hört andächtig bis zum Ende des Stücks zu) Da ist so viel Emotion in ihrem Spiel, in jedem Ton. Kim erkenne ich immer – sie ist menschlich genauso wie musikalisch: Mysteriös, sensibel … Ich habe mich bislang noch nicht wirklich mit diesem Repertoire auseinandergesetzt, außer mit Piazzollas Grand Tango. Ich finde das sehr attraktiv, aber ich fürchte, dass man schnell hören würde, dass ich kein „richtiger“ Tango-Spieler bin (lacht). Das ist wie beim Jazz: Ich liebe Jazz und höre diese Art Musik am liebsten – aber nur weil ich ein bisschen improvisieren kann, bin ich noch kein Jazzer! Man muss voll dabei sein – entweder ganz oder gar nicht.

Stringsville 

Harry Lookofsky (Viola), Elvin Jones (Schlagzeug), Hank Jones (Klavier), Bob Brookmeyer (Posaune)

2006. Collectables Records

Daraus: Thelonius Monk „round Midnight“  

(überrascht) Ist das eine Bratsche? Boah, unglaublich! Ich muss das sofort kaufen! Harry Lookofsky? Ein Jazz-Bratscher? Perfekt, Wahnsinn! Genau das meinte ich: Das klingt nicht, als wäre er ein klassischer Bratscher, der mal eben einen Ausflug in den Jazz macht – ich höre da Trompete, Klavier, Gesang, und das alles auf meinem Instrument! Ich spiele schon über 400 Jahre an Repertoire, aber sowas kann ich nicht! Für jeden Stil in der Musikgeschichte muss man regelrecht trainieren, die Sprache der Komponisten lernen – aber Jazz? Naja, ich bin ja noch jung – jetzt kaufe ich erstmal diese CD!

Schostakowitsch: Violasonate

Julian Rachlin (Viola), Itamar Golan (Klavier)

2005. Warner Classics

Daraus: 2. Satz Allegretto

(sofort) Schostakowitsch-Sonate, 2. Satz. (lange Pause, ratlos) Unglaublicher Stil und Überzeugung im Spiel. Für mich persönlich ein bisschen schnell … Wow! Es gibt hier ein paar Interpretations-Ansätze, die mich zögern lassen, jemanden zu benennen – das ist ganz anders, als ich das spielen würde, aber überzeugend. (wieder lange Pause, spielt Luft-Bratsche) Julian Rachlin? Natürlich! Das ist instrumental sehr gut – und sehr beeindruckend. Das passte zu keinem der Bratscher auf meiner Liste, da Julian eigentlich Geiger ist. Jetzt verstehe ich zum einen die außergewöhnliche linke Handführung und zum anderen die Verrücktheit – er ist ein ziemlich wilder Charakter!

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