Startseite » Interviews » Blind gehört » „Das möchte man bis zum Ende hören“

Blind gehört Dirk Kaftan

„Das möchte man bis zum Ende hören“

Dirk Kaftan, Chefdirigent des Beethoven Orchesters Bonn und GMD der Stadt hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonSusanne Bánhidai,

Ein Tanzprojekt zur fünften Sinfonie mit ehemaligen Straßenkindern aus Kolumbien, aufsehenerregende Opern-Inszenierungen – und ganz viel Ludwig van Beethoven. Dafür steht Dirk Kaftan, Chefdirigent des Beethoven Orchesters Bonn und GMD der Stadt. Im Dezember 2019, als mit dem 249. Tauftag des Komponisten das Beethovenjahr feierlich eingeläutet wurde, begab sich die concerti-Redaktion für zwei Tage nach Bonn. Im Konferenzraum des Hotel Leoninum trafen wir Künstler und Kooperationspartner, darunter auch Dirk Kaftan für ein Blind gehört-Interview ganz im Zeichen des Jubilars.

Album Cover für Beethoven: Sinfonie Nr. 6 F-Dur – 3. Lustiges Zusammensein der Landleute

Beethoven: Sinfonie Nr. 6 F-Dur – 3. Lustiges Zusammensein der Landleute

Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (Leitung)
Deutsche Grammophon 1963

Das ist eine gemütliche Herangehensweise an den Satz. Das kann man so machen, dann wirkt es richtig ländlich. Ich würde es anders dirigieren. In der sechsten Sinfonie geht es nicht um ein Abbild der Natur, sondern um die Empfindungen der Menschen in ihr. Möchte ich eine Idylle zeichnen oder möchte ich von der Sehnsucht des Stadtmenschen nach dem Land erzählen? Was ich in dieser Sinfonie höre, ist keine Idealisierung, sondern der Ausdruck eines schmerzvollen Verlustes von Einheit mit der Natur. Die Aufnahme klingt wie eine Interpretation aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Aha, Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern. Dann habe ich das ja zeitlich ganz gut eingeordnet.

Album Cover für Beethoven: Fidelio – Gott, welch dunkel hier

Beethoven: Fidelio – Gott, welch dunkel hier

Jonas Kaufmann, Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado (Leitung)
Decca 2011

Das ist sensationell gesungen! Wie der Tenor den ersten Ton aus dem Nichts ansetzt, so können das nicht viele. Die Orchesterbegleitung finde ich etwas zu süßlich, wobei es sehr liebevoll und fein musiziert ist. Doch sie könnte mehr kommentieren und die rauhe Welt des Gefangenen zeigen, seine Wunden offenbaren. Wenn man sich Beethovens Metronomzahlen vor Augen hält, ist diese Aufnahme auch ein ­Bekenntnis zur Langsamkeit. Claudio Abbado dirigiert? Ich schätze ihn eigentlich sehr, komme aber bei Beethoven stilistisch oft zu anderen Ergebnissen. Fidelio hat eindeutig eine politische Komponente. Wir gehen in unserer Bonner Inszenierung mit dem Regisseur Volker Lösch einen Weg, der die Freiheitskämpfe der heutigen Zeit auf die Bühne bringt. Wir wollten mit dieser Oper nicht unser Bildungsbürgertum zelebrieren. Es ist grauenhaft, wenn Oper zum Dekorativen verkommt. Daher haben wir den Text verändert, Erfahrungsberichte von politisch Gefangenen hinzugefügt und ihnen medial eine Stimme gegeben. Solange man die Musik respektiert und am Stoff bleibt, finde ich das erlaubt.

Album Cover für Beethoven: Sonate Nr. 8 c-Moll op. 13 „Pathétique“ – 2. Adagio cantabile

Beethoven: Sonate Nr. 8 c-Moll op. 13 „Pathétique“ – 2. Adagio cantabile

Emil Gilels (Klavier)
Deutsche Grammophon 1981

Das möchte man bis zum Ende hören … Das Beethoven Orchester Bonn hat im Dezember die Solisten der Telekom-Beethoven-Competition begleitet. Nach dem langsamen Satz des 3. Klavierkonzerts kam der Konzertmeister zu mir und sagte: „Wenn man das spielt, ist man hinterher ein besserer Mensch.“ So geht mir das hier gerade auch. Das ist sehr indivi­duell geführt und nach innen gehorcht, voller Schmerz und Glück zugleich. Eigentlich sind diese Worte da jetzt schon zu viel. Natürlich kann man jetzt über Freiheit, Agogik und Tempo streiten. Es ist aber beruhigend, dass wir es hier nicht müssen und die Musik Beethovens für sich spricht.

Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – 2. Molto Vivace

Leonard Bernstein (Leitung)
Deutsche Grammophon 1989

Ich erkenne die Aufnahme nicht, aber sie ist ganz weit von dem Tempo entfernt, das Beethoven hier vorschreibt. Das bedeutet nicht, dass man sich sklavisch an Metronomzahlen halten muss. Es sind nur Hinweise, in welche Richtung der Satz gehen soll. Aber dass der Satz an zweiter Stelle steht, wo man ihn gar nicht erwartet, hier die sinfonische Ordnung also auf den Kopf gestellt wird: Das muss man spüren! – Oh nein, das ist Leonard Bernstein beim Mauerfallkonzert? Da möchte ich gar nicht mehr sagen, dass ich diese Interpretation des Satzes nicht gut finde. Aber Bernstein tritt hier auf der Stelle, der Kontrast fehlt, es ist zu wenig „Sturm“ in der Musik. Aber das ist total unfair, weil man eben den Anlass hier nicht mithören kann. Das Konzert hatte in diesem Moment sicher etwas ganz Magisches, und ich bin mir sicher, dass sich sehr viel Energie übertragen hat.

Album Cover für Beethoven: Ouver­türe zu „Egmont“

Beethoven: Ouver­türe zu „Egmont“

Beethoven Orchester Bonn, Dirk Kaftan (Leitung)
MDG 2018

Ist das unsere Aufnahme? Gott sei Dank, ich habe es erkannt. Ich war damals noch nicht so weit, eine Beethoven-Sinfonie aufzunehmen. Aber beim „Egmont“, dachte ich, haben wir etwas zu sagen. Ich hatte Lust auf das Stück und auf die Zusammenarbeit mit einem guten Schauspieler. ­Matthias Brandt hat das großartig gemacht. Ich stehe zu dieser Aufnahme. Wir haben uns selbst zwar nicht auf die historisch informierte Aufführungspraxis hin umgekrempelt, trotzdem haben wir mit alten Bögen gespielt und mit Strichen experimentiert. Wir wollten eine Sprache entwickeln, die sich dieser Zeit annähert.

Beethoven: Andante maestoso C-Dur WoO 62

Daniel Hope, Ikki Opitz, Amihai Grosz, Tatjana Masurenko & Daniel Müller-Schott
Detusche Grammophon 2019

Das ist ja sehr merkwürdig aufgenommen, leicht blechern und sehr nah dran. Das Stück weicht deutlich von einem konventionellen Andante ab. Beethoven rauht das gesangliche Moment ganz schön auf. Ich höre sehr viele Abgründe … Es kommt mir bekannt vor, aber ein Streichquintett hat Beethoven doch gar nicht komponiert. Ach so, jetzt, da Sie’s sagen, fällt der Groschen: Es ist der „letzte Gedanke“, den man sonst nur für Klavier solo kennt. Genial, das so zu arrangieren! Interessant auch, dass Beethoven ursprünglich genau diese Besetzung im Sinn hatte. Die Aufschreie wühlen mich viel mehr auf. Wenn man das auf dem Klavier spielt, wirkt es schlichter.

Album Cover für Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur – 3. Rondo

Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur – 3. Rondo

Pierre-Laurent Aimard, Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt (Leitung)
Teldec 2001

Mit dem fünften Klavierkonzert habe ich lange Probleme gehabt, weil ich da schon den ersten Satz nicht verstehe. Das ganze Konzert selbst hat viel mit Pomp zu tun, aber auch mit dem Markieren von Macht­bereichen. Ich begegne hier dem alten Tastenlöwen Beethoven, der es noch mal allen zeigen wollte. Er entwickelt die Kraft aus einer improvisatorischen Energie heraus. Dazu steht der dritte Satz im Kontrast. Das Thema ist unkonventionell gegen den Takt gesetzt. Ist es der Kommentar zum ersten „Repre­sentatione“-Satz oder echte Emotion, die hier ausbricht, nach allem, was vorher war? Es ist sehr fein gespielt, innerlich empfunden und schön phrasiert. Für meinen Geschmack könnte es aber ein bisschen „ausbrechender“ sein. – Nikolaus Harnoncourt dirigiert? Das wundert mich nicht. Er hat oft Tempi, auf die ich selbst nie gekommen wäre und die live super sind. Bei Aufnahmen weiß ich aber manchmal nicht, was er will. Das reflektierte Spiel vom ­Solisten passt aber sehr gut dazu.

Album Cover für Beethoven: Ouvertüre zu „Die Ruinen von Athen“

Beethoven: Ouvertüre zu „Die Ruinen von Athen“

Beethoven Orchester Bonn, Stefan Blunier (Leitung)
MDG 2016

Das ist die eher selten gespielte Ouvertüre von Beethoven, „Die Ruinen von Athen“. Athen wird ja als Urfunke von Europa beschrieben, und es liegt hier in Trümmern. Die langsame Einleitung beschreibt diese leere Ödnis. Das ist das Beethoven Orchester, das das Stück vor meiner Zeit aufgenommen hat. Ich finde die ­Interpretation etwas zu forsch, um dieses Bild zu beschreiben. Es beschreibt eher die Gefühle, die man bekommen kann, wenn man sich in einer solchen Umgebung aufhält: unruhig und nervös. Ich würde es heute brüchiger und dunkler spielen. Mein Anspruch ist immer, mit den Tönen eine Geschichte zu erzählen. Wenn man seinen interpretatorischen Ansatz ehrlich mit sich abgehandelt hat, darf man auch mal scheitern. Die Gefahr ist groß, dass man das Repertoire einfach so runterspielt. Das geht bei Beethoven nicht. Er zwingt uns dazu, Farbe zu bekennen.

Album-Tipp

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!