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Blind gehört Franco Fagioli

„Sie singt aus der Mitte ihrer Seele“

Der Countertenor Franco Fagioli hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer singt.

vonJakob Buhre,

Franco Fagioli hat es sich auf der Couch seines Berliner Hotelzimmers bequem gemacht, lauscht der Musik aus den Lautsprechern und greift immer wieder zum Handy, um mit einer Klavier-App rauszukriegen, in welcher Stimmung die Arien aufgenommen wurden. Der Argentinier, der 2015 als erster Countertenor bei der Deutschen Grammophon einen Exklusivvertrag unterschrieb, gerät bei einigen Kollegen ins Schwärmen, reagiert zum Teil aber auch zurückhaltend: „Eine Aufnahme zu bewerten, das ist wirklich eine schwierige, subjektive Angelegenheit. Wahrscheinlich werden mich die Leute hassen nach diesem Interview.“

Händel: Ariodante – „Scherza infida“

David Daniels, Orchestra of the Age of Enlightenment, Sir Roger Norrington (Leitung)
Virgin Veritas 1998

Diese Arie ist für mich eine Art perfekter Videoclip für den versuchten Selbstmord von Ariodante. Er steht oben an der Klippe, im Orchester hört man die Wogen des Meeres, während er darüber nachdenkt, sich hinunter zu stürzen. Das Tempo ist hier für meinen Geschmack etwas zu schnell. Die Stimme, das könnte David Daniels sein. Man erkennt es gut daran, wie er die italienische Schule verinnerlicht hat. Das „aperto ma coperto“, also der offene, aber gedeckte Gesang, das Singen „in maschera“, bei dem die ganze Gesichtspartie mitschwingt, das Singen auf dem Atem. David ist einer der besten Countertenöre, er singt sehr emotional. Ich denke auch, dass er dem Belcanto, wie es die Kastraten verstanden haben, sehr nahe kommt.

Händel: Ariodante – „Scherza infida“

Anne Sofie von Otter (Mezzosopran), Marc Minkowski (Leitung)
Archiv Produktion 1997

Das Orchester ist mir hier zu langsam, ich höre nicht das Meer, auf das Ariodante hinunterblickt. Aber es ist ein runder Orchesterklang. Aha, ein Mezzo. Ist das Ann Hallenberg? Susan Graham vielleicht? Die Stimme ist wunderbar. Ach natürlich (schnippt mit den Fingern), Anne Sofie von Otter! Ich liebe diese Interpretation, sie singt wirklich aus der Mitte ihrer Seele. Und man muss wissen: Das ist eine Live-Aufnahme, sie haben damals die gesamte Oper live aufgenommen. Wenn du dann an dieser Stelle angekommen bist, ganz ehrlich, wen kümmert da das Tempo? Da bist du spontan, da geht es um Emotionen – und die höre ich bei Anne Sofie von Otter. Ihr Ariodante ist für mich einer der besten. Auch weil die Stimme aus der Tiefe ihres Körpers kommt. Ich kenne diese Aufnahme auch deshalb, weil die Mezzosoprane meine Lehrer sind, mehr als Countertenöre. Als ich während des Studiums verstanden habe, dass die Kastratenrollen auch von Frauen gesungen werden, hat es bei mir Klick gemacht. Ich habe Jennifer Larmore gehört und gemerkt, dass ich mich damit mehr verbunden fühle, dass Mezzos mein Ideal von Klangschönheit sind. Ich habe auch nie bei einem Countertenor studiert, sondern meine Lehrer waren Sopran und Bariton. Sie haben mich unterrichtet wie einen Mezzo.

Händel: Rodelinda – „Vivi, tiranno, io t’ho scampato“ – „Dove Sei“

Russell Oberlin, Thomas Dunn (Leitung)
Decca 1959

Das ist aber keine neue Aufnahme. Und kein Europäer, das hört man an der Aussprache. Aber sehr guter Gesang, sehr klar. Ich habe keine Idee, wer das ist. Marilyn Horne vielleicht? Wie, keine Frau? Das überrascht mich, ich dachte tatsächlich, hier singt eine Frau. Das ist schon sehr nah an dem, was die Kastraten gemacht haben. Von 1959? Ich weiß, dass es zu der Zeit einen amerikanischen Countertenor gab, der auch „Dove Sei“ aufgenommen hat. Das gemächliche Tempo ist typisch für die Zeit, der Gesang ist sehr brustig, auch in den hohen Noten hört man die Brust. Russell Oberlin? Den Namen habe ich schon mal gehört, ich glaube er hat zuerst Tenor gesungen und wurde später Countertenor.

Gluck: Orfeo ed Euridice – „Che faro senza Euridice“

Jochen Kowalski, Hartmut Haenchen (Leitung)
Capriccio 1989

Die Stimme erinnert mich an Derek Lee Ragin. Man hört kaum das Passaggio, also den Übergang von Brust- zu Kopfstimme. Passaggio ist in unserer Branche ja eigentlich ein Unwort, man versucht, diesen Übergang so natürlich wie möglich zu gestalten. Ein deutscher Sänger? Es könnte Kowalski sein, wobei ich immer dachte, er sei Pole, wegen des Namens. Kowalski ist cool, ein großartiger Countertenor. Ich singe die hohen Töne anders, aufgrund der italienischen Gesangsschule, vielleicht aber auch, weil bei mir die Muskeln anders arbeiten. Von „Che faro senza Euridice“ singe ich auch eine andere Fassung. Das hier ist die von 1762, die Gluck für einen Kastraten geschrieben hat. Als dann später die Arie auch von Tenören und Mezzosopranen gesungen wurde, hat er einen anderen Schluss geschrieben, mit höheren Tönen.

Händel: Rinaldo – „Lascia ch’io pianga“

Derek Lee Ragin, Ewa Małas-Godlewska (Sopran). Christophe Rousset (Leitung)
Auvidis Travellling 1994

Da würde ich nochmal auf Derek Lee Ragin tippen, von der Tongebung und vom Ausdruck her. Wie, nur zur Hälfte? Ach so, das ist die Aufnahme vom Farinelli-Soundtrack. Ja, ich weiß, man hat damals seine Stimme mit der einer Sopranistin zusammengemischt. Aber hier in „Cara sposa“, das ist Derek ganz alleine, ich erkenne ihn deutlich. Ich bin mir auch relativ sicher, dass man damals nur die Stellen gemischt hat, die zu hoch für ihn waren. In „Lascia ch’io pianga“, ja, da höre ich die Sopranistin jetzt auch. Der Film hat mich damals beeindruckt, ich fand auch die technische Lösung mit den zwei Stimmen großartig, denn es gab nicht die Sänger, die das Farinelli-Repertoire komplett singen konnten. Doch seitdem hatten wir eine Entwicklung, und es gibt heute Countertenöre, die es können. Ich würde gerne ein Remake von Farinelli drehen – und dann natürlich alle Arien selbst singen. (lacht)

Album Cover für Piazzolla: Los Pájaros Perdidos

Piazzolla: Los Pájaros Perdidos

Philippe Jaroussky, L’Arpeggiata, Christina Pluhar (Leitung)
Erato/Warner 2012

Nunca escuché esta grabación pero se lo que es, se quien es. Oh, Entschuldigung, da bin ich jetzt aus Versehen ins Spanische gerutscht. Ich wollte nur sagen: Ich weiß von dieser Aufnahme, habe sie aber nie gehört. Das ist Jaroussky, völlig klar. Sein argentinisches Spanisch ist gut. Man hört schon, dass er nicht aus Buenos Aires kommt, aber zum Beispiel das „yo“ spricht er wie wir Argentinier. Man kann jetzt natürlich fragen: Piazzolla und Countertenor – warum? Aber ich sehe da gar kein Problem. Schuberts Lieder werden auch von Baritonen, Tenören, Sopranen und so weiter gesungen. Ich habe auch schon das Zamba-Lied „Alfonsina y el mar“ gesungen. Und einen Tango mit Countertenor-Stimme, warum nicht? Wir müssen uns von den Vorurteilen befreien und mit offenem Herzen hören.

Vivaldi: Konzert für 2 Mandolinen G-Dur RV 532 – Andante

Bobby McFerrin (vocals), Yo-Yo Ma (Violoncello)
Sony 1992

Das klingt wie Vivaldi. Und die Stimme ist hier das Soloinstrument. So wie dir Piazzolla ein Bild von Buenos Aires malt, so malt dir Vivaldi eines von Venedig. Das Arrangement erinnert mich an die „Bachianas“ von Heitor Villa-Lobos. Der Sänger ist allerdings sehr zurückhaltend. Wenn du es singen willst, dann singe es raus. Verstecke dich nicht. Ich weiß nicht, wer das ist, vermutlich kein Opernsänger, denn sonst würde er das Stück ganz anders interpretieren. Es klingt für mich, als würde er eine Orgelpfeife imitieren, nicht eine Mandoline. Aber vielleicht soll es so sein, vielleicht ist diese Zurückhaltung die eigentliche Idee. Bobby McFerrin? Klar, ich kenne ihn. Auch wenn ich es ganz anders singen würde, finde ich seinen Ansatz interessant.

Di Capua: „O Sole Mio“

Andreas Scholl, Pascal Bertin, Dominique Visse, Reinhardt Wagner (Leitung)
harmonia mundi 1995

Das Stück habe ich natürlich noch nie gehört (lacht). Wow, ist das dieses Album aus den Neunzigerjahren, von den drei Countertenören – Andreas Scholl, Pascal Bertin und Dominique Visse? Tja, warum haben die das gemacht? Das zu hören, ist schon lustig. Jetzt singt Andreas, ganz deutlich und hier ist Dominique, er transportiert das auf eine eher mediterrane Art und Weise. Ich muss bei „O Sole mio“ natürlich an Pavarotti denken. Das gleiche Stück nun von den Dreien zu hören, deren Stimmen ganz anders ausgebildet sind, ist schon etwas sonderbar. Und ja, es ist etwas kitschig. Aber am Ende ist es einfach eine andere Version von „O sole mio“ – kann man mögen oder nicht.

Mozart: Mitridate, Rè di Ponto – „Venga pur, minacci e frema“

Franco Fagioli, Gustav Kuhn (Leitung)
Arte Nova 2005

Das Tempo hier ist perfekt, der Orchesterklang gefällt mir, schön leicht. Oh, das bin ja ich (lacht)! Ein junger Fagioli. Wie gesagt, perfektes Tempo. Aber oh mein Gott, war ich da noch jung. Damals fing alles an. Die hohen Noten waren noch nicht so gut, das muss ich zugeben. Aber seitdem habe ich sehr viel an mir gearbeitet.

Mozart: Mitridate, Rè di Ponto – „Venga pur, minacci e frema“

Edson Cordeiro, Antonio Vaz Lemes (Klavier)
Paulus 2005

Das ist sehr schnell. Das ist nicht Xavier Sabata, oder? Er wechselt hier ein wenig den Rhythmus, die Betonung. Es ist ein Countertenor und könnte ein Spanier sein. Aus Brasilien? Edson Cordeiro? Nein, der Name sagt mir nichts. Er hat eine Stimme, definitiv, sehr leidenschaftlich. Man sagt ja, wir Südamerikaner haben diesen speziellen Mix von allem, wenn wir Musik machen. Leidenschaft, Wärme – und Kraft.

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