Vom Bahnhof in Luzern sind es bis zur Wohnung von Herbert Blomstedt keine zwei Kilometer, ein entspannter Fußweg also. Theoretisch, denn die Schweiz ist bekanntlich gebirgig, und der Weg geht ausschließlich bergauf. Steil bergauf. Doch oben angekommen, entschädigt die Aussicht auf die wunderschöne Stadt und die Erwartung auf ein interessantes Gespräch mit Herbert Blomstedt alle Mühsal. Die Klingel ist schnell gefunden, und flugs tönt Blomstedts Stimme aus der Gegensprechanlage mit einem herzlichen „Hereinspaziert!“ Keine fünf Minuten später sitzt der schwedische Dirigent auf dem Sofa und hört die ersten Takte einer älteren Aufnahme von ihm.
Beethoven: Sinfonie Nr. 6 „Pastorale”, 1. Satz
Staatskapelle Dresden, Herbert Blomstedt (Leitung)
Brilliant Classics 1980
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Ah, die Staatskapelle! Das war damals Liebe auf den ersten Blick bzw. Liebe auf den ersten Ton. Nur der Vertragsschluss war eine langwierige Angelegenheit. Zuerst lag es an mir, denn die Entscheidung, als Mensch aus dem Westen in einer Diktatur zu arbeiten, fiel mir sehr schwer. So vergingen bereits zweieinhalb Jahre. Dann dauerte es noch einmal zweieinhalb Jahre, bis die Ost-Berliner Behörde den Vertrag akzeptierte. Mit dem Orchester selbst gab’s überhaupt keine Schwierigkeiten. Wir haben uns musikalisch sehr gut verstanden, und es hat mich damals sehr beflügelt, dass ein Orchester von solchem Weltrang ausgerechnet darauf bestanden hat, mich zu haben. Aber ein Teil dieser Entscheidung war natürlich, dass ich die Kapelle sehr verehrt habe, mein ganzes Leben lang. Es gibt kein Orchester, das besser als die Kapelle musiziert. Es mag ebenso gute Orchester geben, aber die klingen anders, die haben ein anderes Temperament, ein anderes Lebensgefühl … Aber es ist doch ein recht frisches Tempo, das ich damals bei dieser Aufnahme gewählt habe. Das sehe ich heute ganz anders. Aber damals war das Rasante nicht üblich unter Dirigenten.
Schubert: Sinfonie C-Dur D 944 „Große Sinfonie”, 4. Satz
Staatskapelle Dresden, Herbert Blomstedt (Leitung)
Berlin Classics 1982
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Die Aufnahme muss aus den achtziger Jahren stammen. Auch dieses Stück sehe ich heute anders, als ich es damals dirigiert habe. Das haben viele Kollegen und ich auf zwei Schläge dirigiert. Heute mache ich das nicht, da dirigiere ich mit einem Schlag. Aber das ist nun mal der Zahn der Zeit: Am Anfang ist man begeistert von seinen Vorbildern – bei mir waren das Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter oder Arturo Toscanini –, aber wenn man älter wird, hat man auch sich selbst als Vorbild. Und das sollte man manchmal vergessen, wie man hört. Hier im Finale würde ich das Tempo heute schneller nehmen. Der letzte Satz ist übrigens wahnsinnig anstrengend für Streicher und für Bläser. Das große Oboensolo zum Beispiel: Alle Oboisten, die ich kenne, setzen acht Takte vorher aus, um die Lippen ein wenig zu entspannen. Sehr schwierig, besonders dann, wenn man auch die Reprise spielt, und das muss man! Damals habe ich bestimmt auch im ersten Satz ein ruhigeres Tempo gewählt.
Sibelius: Sinfonie Nr. 5 Es-Dur, 3. Satz
San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Leitung)
Decca 1989
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Diesmal sitzt das Tempo, finde ich. Das ist das San Francisco Symphony! Ein Orchester mit bemerkenswert schnellen Reaktionen. Wir haben damals die Sibelius-Sinfonie eingespielt zu einer Zeit, in der der Komponist nicht mehr so beliebt war in den USA wie in den Zwanzigerjahren. Da war er ein großer Name, er war sogar zeitweise der meistgespielte lebende Komponist. Auch in Deutschland übrigens. Dann hat Adorno mit seiner Abneigung gegenüber Sibelius eine schlechte Saat gesät in Deutschland, so viel Gutes Adorno in der Musik auch bewirkt haben mag. Ich dirigiere sehr gerne Sibelius. Er ist ein großartiger Komponist, und ein Charakteristikum seiner Größe ist, dass man seine Art zu Komponieren nicht imitieren kann. Er selbst hat in seinen Tagebüchern öfters notiert: O du herrliches Ego! Das war nicht herablassend oder eitel gemeint. Ihm war nur bewusst, dass man seine Komponistenpersönlichkeit mit keiner anderen vergleichen kann. Die Orchestermusiker, die hier spielen, hatten übrigens ein enormes Einfühlungsvermögen und haben das mit wunderschöner Virtuosität gespielt, wie man hört.
Nielsen: Sinfonie Nr. 4 „Das Unausöschliche”, 4. Satz
San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Leitung)
Decca 1987
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Auch hier hört man sofort, dass das ein sehr gutes Orchester ist; sehr virtuos, aber nicht nur in den Fingern und Lippen, sondern auch im Herz und im Geist. Sehr sensible Leute! Das San Francisco Symphony reagiert sehr stark auf alle Impulse, jede noch so kleine Geste erkennt es und weiß es sofort zu übersetzen, sogar in diesem äußerst schwierigen Finale. Nichts ist unmöglich mit diesen Musikern. Aber hier müssen selbst die sich sehr ins Zeug legen. Es ist vor allem für den Kopf schwierig. Ich habe das Orchester immer sehr bewundert, auch die Bläser. Wenn die spielen, dann muss ich manchmal weinen, so schön machen die das.
Grieg: Peer Gynt Suite Nr. 1, Morgenstimmung
San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Leitung)
Decca 1990
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Man darf diese Musik nicht herablassend betrachten. Grieg ist ein sehr großer Komponist, und seine wahre Größe zeigt sich vor allem in seinen vermeintlich kleinen Werken. Ich habe die erste Suite in letzter Zeit wieder ein paarmal dirigert. Man darf nur mit äußerster Sensibilität spielen und bloß nicht routiniert. Erst dann merkt man, wie poetisch die Musik ist, wie schön man sie auskosten kann. Die Morgenstimmung ist sehr poetisch. Sehr einfach, aber nicht oberflächlich, nicht billig, geschweige denn sentimental.
Brucker: Sinfonie Nr. 9 d-Moll, 3. Satz
Gewandhausorchester Leipzig, Herbert Blomstedt (Leitung)
Querstand 2011
Ich würde diese Sinfonie nie mit dem unvollendeten vierten Satz abschließen, sondern immer mit dem dritten. Bruckner ist so modern! Man muss sich vorstellen, dass das 1894 geschrieben wurde. Und doch klingt das wie Schönberg anno 1912. So weit war Bruckner in der harmonischen Sprache voraus. Dieser Akkord etwa! Das ist keine Dissonanz, um etwas Makabres oder Schockierendes zu beschreiben, sondern eine vollkommen logische harmonische Entwicklung. In Skandinavien übrigens nimmt man Bruckner kaum wahr. Ich erinnere mich an ein für mich schockierendes Erlebnis: Ich war Student in Stockholm und besuchte ein Konzert der Wiener Philharmoniker mit Furtwängler. Damals stand Bruckners achte Sinfonie auf dem Programm. Nach dem Konzert habe ich vor dem Bühneneingang gewartet, um mir von Furtwängler ein Autogramm geben zu lassen. Als er dann rauskam, hörte ich ihn nur brüllen: „Nie wieder spiele ich Bruckner in Stockholm!“ Der Grund dafür war, dass das Publikum keinerlei Begeisterung für dieses Werk zeigte. Damals habe ich mir gesagt: Das ändere ich! Ich habe dann auch gar nicht wenig Bruckner in Schweden gespielt. Es hat aber wenig genützt.
Hindemith: Sinfonie „Die Harmonie der Welt”, 1. Satz
Gewandhausorchester Leipzig, Herbert Blomstedt (Leitung)
Decca 2000
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Dieses Orchester hat eine unbeschreibliche Aura. Allein schon der Name! Ich wurde eingeladen, sein Chef zu werden, das muss 1996 gewesen sein. Ich hatte eben einen weiteren Vertrag mit dem NDR Sinfonieorchester in Hamburg unterschrieben und mich sehr darauf gefreut. Aber zum Gewandhausorchester konnte ich einfach nicht nein sagen. Das Orchester hat so einen Nimbus! Ich habe das auch nie bereut, auch wenn ich sehr traurig war, dass ich meine Kollegen in Hamburg enttäuschen musste. Das hing damit zusammen, dass Leipzig eine ganz besondere Musikstadt ist. Die Stadt weiß, was sie vom Orchester hat, und sie lässt sich das Orchester etwas kosten mit seinen 185 Musikern. Die Bevölkerung schätzt das Orchester enorm. Ein Beispiel: Die Bild-Zeitung in Leipzig, in kulturellen Gebieten vielleicht nicht das maßgebende Blatt, machte damals jedes Jahr eine Umfrage, wer aus der Stadt die prominentesten Personen seien. Die ersten drei Plätze waren immer dieselben: Nr. 1 war der Bürgermeister, Nr. 2 der Gewandhauskapellmeister, und Nr. 3 der Thomaskantor.
Reger: Mozart-Variationen, Thema: Andante grazioso
Staatskapelle Dresden, Herbert Blomstedt (Leitung)
Profil Medien 1990
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Das war das erste Stück von Max Reger, das ich gehört habe. Ich war vielleicht 14 Jahre alt und machte in Schweden Urlaub bei meinen Großeltern. Das war zu Kriegszeiten, und wir haben jeden Sonntag im Deutschlandfunk um zehn Uhr das Kammerkonzert und um elf Uhr das Sinfoniekonzert gehört. Und da kommt an einem Sonntag diese Musik. Ich kannte diese Musik vom Klavier. Und dann höre ich diese Orchesterversion – das hat mich verzaubert! Nach dem Stück kam die Ansage: „Sie hörten die ‚Mozart-Variationen’ von Max Reger, gespielt von der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung von Karl Böhm.“ Das war für mich von nun an ein Begriff für Schönheit für mich: Karl Böhm, Staatskapelle Dresden, Max Reger. Von da an habe ich geschwärmt für die Kapelle.
Berg: Sieben fühe Lieder – Nr. 7 „Sommertage”
Kari övaas, NDR Sinfonieorchester, Herbert Blomstedt (Leitung)
DG 1985
Ach, da haben wir ja das NDR-Orchester. Das muss eine Archivaufnahme von meiner ersten Begegnung mit dem Klangkörper sein. Lange Zeit vor dieser Aufnahme war ich noch Student, sah ich Schmidt-Isserstedt, den Gründer und damaligen Dirigenten des Orchesters, in der Stockholmer Philharmonie. Später hat er mich dann eingeladen, um Alban Bergs „Sieben frühe Lieder” zu dirigieren mit Kari Lövaas als Solistin. Das war ein sehr schönes Erlebnis, und die Aufzeichnung wurde recht früh in eine Alban-Berg-Anthologie integriert. Schön, dass es diese Aufnahme heute noch lebt.