Startseite » Interviews » Blind gehört » „Allein dafür sollte er den Nobelpreis bekommen!“

Blind gehört Hille Perl

„Allein dafür sollte er den Nobelpreis bekommen!“

Die Gambistin Hille Perl hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie weiß, wer spielt.

vonIrem Çatı,

„Mal schauen, ob ich das hinbekomme“, sagt eine leicht nervöse Hille Perl, „wahrscheinlich wäre ich beim Erraten von Vogelstimmen besser.“ Vom Setting her würde es passen: Von der Küche ihres Hauses am Waldrand aus kann man beim Musikhören ihre eigenen Schafe beobachten.

Telemann: Fantasia D-Dur – Vivace
Paolo Pandolfo (Gambe)
Glossa 2017



Telemann, oder? Aus den Fantasien. Und das ist Paolo, klar. Das ist leicht, weil er mit dieser charmanten Art von Rubato spielt und sich nicht scheut, die vielen leeren Saiten zu benutzen. Ich bewundere ihn sehr als Kollegen und Gambisten. Für uns ist es auch toll, diese Telemann-Fantasien zu haben. Ich bin sehr froh, dass Thomas Fritzsch sie ausgegraben und Paolo sie eingespielt hat. Telemann selbst hat ja wahnsinnig viele Instrumente gespielt und wusste, was auf den jeweiligen Instrumenten gut liegt. Für uns sind die Fantasien deswegen sehr wertvolle Stücke.

Bach: Gambensonate D-Dur BWV 1028 – Adagio
Alberto Rasi (Gambe), Patrizia Marisaldi (Cembalo)
Bongiovanni 1994

  



(sofort) Bach, D-Dur-Sonate BWV 1028, erster Satz! Na, wenn ich das nicht erraten würde, wäre ich nicht gut in meinem Job (lacht)! Ich finde, es ist sehr schön gespielt. Das Tempo stimmt. Es gibt so viele Aufnahmen von diesem Stück. Wenn ich es spiele, bemühe ich mich jedes Mal, es immer etwas anders zu spielen. Es gibt sehr viele Regeln, an die man sich halten muss, aber innerhalb derer man versucht, sich die größtmögliche Freiheit zu nehmen. Ich weiß nicht, wer es ist, aber ich finde es jedenfalls großartig. Alberto Rasi? Sehr schön! Vor allem dieser lange Vorhalt im Schlusston, bevor die Auflösung kommt.

Cage: Six Melodies – No. 3
Hille Perl (Gambe), Lee Santana (Laute)
dhm 2012

  



Das ist John Cage, klar. Ich würde mal behaupten, das sind Lee und ich, denn ich glaube, dass niemand sonst die Stücke in dieser Version aufgenommen hat. Das ist eine der wenigen Aufnahmen von mir selber, die ich mir manchmal anhöre. Das Original ist für präpariertes Klavier und Geige. In der Spielanweisung heißt es: „Quasi non vibrato und mit ganz wenig Druck mit dem Bogen“. Da haben wir gedacht, das passt perfekt für Diskantgambe und Laute, und haben angefangen zu proben. Allerdings sind die Stücke irrsinnig kompliziert. Es gibt kaum etwas, das wir so hart proben mussten. Für die Diskantgambe habe ich die E-Saite um einen Ganzton nach unten gestimmt. Generell liebe ich Cage sehr. Ich finde seinen ganzen Lebensweg so sympathisch. Außerdem bin ich, wie Cage auch, leidenschaftliche Pilzesammlerin.

Bach: Cellosuite Nr. 1 – Prelude
Paolo Pandolfo (Gambe)
Glossa 2005

  



Diese Cellosuite wird doch auf einer Gambe gespielt, oder? Dann ist es Paolo, er hat alle aufgenommen. Einmal hat er bei uns an der Hochschule für Künste Bremen einen Kurs gegeben, und mein geliebter Kollege Alexander Baillie, der modernes Cello unterrichtet und ein großer Fan von Paolo ist, hat gefragt, ob er eine Stunde bei ihm haben könne. Wir saßen mit unseren Studenten zusammen, und Paolo hat ganz toll erzählt, wie er an die Cellosuiten herangegangen ist. Zum Beispiel hat er bei einigen die Tonart verändert. Das fand ich super, denn ich denke, dass Cellisten viel von uns Gambisten lernen können, was Suiten als Gattung betrifft, da gibt es ja unendlich viele für Gambe. Das Spannende ist auch, dass Bach die alte Form der Suite für das neue Solo-Instrument Cello ausgewählt hat, während er für die ältere Viola da Gamba eine neue Form verwendet hat, nämlich die Sonaten mit obligater Begleitung. Als mir das mal klar wurde, war ich ganz glücklich, denn so verbindet man die Dinge. Ich selbst habe die fünfte Cellosuite aufgenommen und sie dafür von c-Moll nach d-Moll transponiert. Paolo aber hat sie in g-Moll gespielt, und das funktioniert viel besser. Da ziehe ich den Hut vor ihm! Die Aufnahme ist sehr hörenswert.

Bach: Cellosuite Nr. 1 – Prelude
Mstislaw Rostropowitsch (Violoncello)
Warner Classics 1991/2017

  



Das ist eine andere Aufnahme von demselben Stück. Man hört beim Cello, dass es lauter, aber deutlich dumpfer ist und weniger Resonanz hat. Die Gambe ist ja eher verwandt mit der Gitarre oder der Laute. Man hat sechs oder sieben Saiten, die in Quarten und in Terzen gestimmt sind. Und man hat Bünde, die das Spielen von Akkorden enorm erleichtern und den Vorteil haben, dass die Gambe mehr Resonanz hat. Gambe spielen geht ausschließlich über Bewegung und nicht über Kraft. Ich weiß nicht, wer das ist. Ach ja, Rostropowitsch. Das hätte ich vielleicht raten können.

Born to be mild – Katip Türküsü
Hille & Marthe Perl (Gambe), Lee Santana (E-Gitarre)
dhm 2014

  



Ach, herrlich! Ich weiß schon, was das ist. Das hat mein geliebter Kollege Bülent Oral aus Izmir mitgebracht, als er einmal in Bremen gespielt hat. Ich habe mich in das Stück verliebt, deswegen haben wir es für die „Born to be mild“-CD aufgenommen, die ein Potpourri aus verschiedenen Werken ist. Für die Aufnahmen habe ich meine E-Gambe benutzt, die ich mir ursprünglich gekauft hatte, weil ich damals in einer Hobby-Band gespielt habe. Das betreibe ich nicht als klassische Gambistin, sondern mehr aus Spaß, aber ich mag es, verschiedene Dinge auszuprobieren und Grenzen zu überschreiten.

Dowland: Flow my tears
Sting, Edin Karamazov (Laute)
Deutsche Grammophon 2006

  



Das ist Sting. Ich kenne die CD und bin seit seinen „Police“- Zeiten ein großer Anhänger. Ich finde es gut, dass er damals diese Dowland-CD gemacht hat, denn er traut sich etwas. Allerdings finde ich, dass einige Stücke nicht so funktionieren, weil er sich nicht mit der speziellen Harmonik Dowlands auskennt und den musikalischen Inhalt nicht genau trifft. Aber durch ihn war Dowland in aller Munde, und so hat Sony auch sofort zugestimmt, als wir eine CD mit seinen Werken aufnehmen wollten. Da war gleich klar: Dowland gibt es und ist geil (lacht)! Ich habe eine historisch sehr korrekte Aufnahme mit Dorothee Mields aufgenommen, auf der wir auf die ganzen Feinheiten in der Musik hinweisen konnten. Aber ich kann beides nebeneinander stehen lassen. Und schon der Text … (rezitiert). Das ist ein zentrales Stück Musikgeschichte, und es ist toll, dass Sting das aufgreift und an ein Publikum weitergibt, das wir nicht erreichen können. Allein dafür sollte er den Nobelpreis bekommen!

Marais: Pièce de viole Livre II – Suite e-Moll
Jordi Savall (Gambe)
Alia Vox 2005

  



Marais. Und das ist Jordi! Wenn Jordi nicht gewesen wäre, wäre ich vielleicht keine professionelle Gambistin geworden. Ich werde nie vergessen, wie ich ihn zum ersten Mal live in Berlin gesehen habe. Da war ich ungefähr vierzehn. Grandios! Er ist so frei auf der Bühne und geht so angstfrei mit dem Material um. Er ist eine große Inspiration. Ich bewundere ihn sehr und bin glücklich, ihn persönlich zu kennen. An Jordi kommen wir nicht vorbei. Und alle lieben ihn.

Vivaldi: Streichersinfonie A-Dur RV 158
Freiburger Barockorchester
dhm 2011

  



Ach Gott, was ist das noch mal? Ich kann vielleicht das Orchester identifizieren, wenn ich das Cembalo genau höre. Das ist das Freiburger Barockorchester, oder? Ich hör’s am Cembalisten Torsten Johann. Das Stück kenne ich aber nicht. Eine Streichersinfonie von Vivaldi? Davon gibt es ja endlos viele, und mir ist diese tatsächlich nicht geläufig. Ich glaube, ich spiele seit 1989 mit dem Orchester zusammen – auch in Kammermusikformation. Das ist ein großartiges, über Jahrzehnte gewachsenes Gebilde an Musikern. Ich habe großen Respekt vor ihrem Können und freue mich immer, mit ihnen zusammenzuarbeiten, insbesondere mit Petra Müllejans und Gottfried von der Goltz.

Sanota Ogni Sorte I – Adagio ma non tanto
Marthe Perl (Gambe)
Carpe Diem Records 2018



Das ist spannend. Das sind natürlich Lee Santana, Andreas Wahl und Marthe Perl. Ich finde es großartig, dass Marthe und ich das gleiche Instrument spielen. Sie ist eine hervorragende Gambistin und ernsthafte Musikerin. Ich bin sehr glücklich darüber. Es ist für mich sehr leicht, mit ihr zusammen zu spielen, und wir haben auch ein paar Alben zusammen aufgenommen. Es ist toll, ihren künstlerischen Werdegang mitzuerleben – sowohl als Gambistin als auch als Mutter.

Haneke: Happy End
Hille Perl (Gambe)
Warner Home Video 2017



Das ist aus Hanekes „Happy End“. Das war für mich eine große Ehre und kam ziemlich überraschend, dass ein Regisseur speziell mich anfragt. Er hat mir das Drehbuch geschickt, und im ersten Moment dachte ich, dass ich gar nicht zu der Rolle passe, denn es ging um eine Frau Mitte dreißig. Aber Haneke hat mich nach Paris geholt, ich habe Probeaufnahmen gemacht, und dann hat es doch gepasst. Am Set war es ziemlich aufregend für mich. Ich bin ja Musikerin, aber überhaupt kein Filmprofi. Aber mit diesen fabelhaften Menschen eine Woche lang zusammen in Frankreich sein zu dürfen, war ganz toll für mich.

Album-Tipp

Album Tipp

Termine

Auch interessant

Rezensionen

  • Dirigierte 2000 zum ersten Mal die Sächsische Staatskapelle Dresden: Daniele Gatti
    Interview Daniele Gatti

    „Es gibt nichts Vergleichbares“

    Der italienische Dirigent Daniele Gatti übernimmt ab der nächsten Spielzeit den Chefposten bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!

Klassik in Ihrer Stadt