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Blind gehört Jean-Guihen Queyras

„Ich bin schockiert!“

Der Cellist Jean-Guihen Queyras hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonTeresa Pieschacón Raphael,

„Muss ich jetzt rappen?“ lacht Jean-Guihen Queyras, als er den Ghettoblaster sieht, den Mitarbeiter der Philharmonie im Gasteig für unser Treffen in ein Künstlerzimmer gestellt haben. Doch dann macht sich der Cellist gleich fachmännisch ans Werk: Der Klang muss noch geregelt werden, die Höhen, die Bässe – und auch die Lautstärke stimmt so noch nicht. Ein bisschen unsicher ist der Franzose zudem, ob er auf diesem Apparat auch alle Interpreten erkennen wird. Doch diese Nervosität legt sich schon bald.

Elgar: Cellokonzert e-Moll, 2. Satz 

Jacqueline du Pré (Violoncello), London Symphony Orchestra, Sir John Barbirolli (Leitung)

1965/2004, EMI Classics 

 

Super lebendige Interpretation! Sehr spritzig … im Hier und Jetzt … und nicht im Sinne heutiger Sauberkeit und Perfektion. Manche Saite springt sogar schlecht an. Vom Feuer her tippe ich auf Jacqueline du Pré. Auch wenn ich anders spielen würde, ist diese Aufnahme eine gute Schule für mich. Manchmal beneide ich die Künstler von damals. Die haben fast nur Konzerte gegeben und ab und zu eine LP produziert, die eher ein Spiegel dessen war, was sie die ganze Zeit machten. Karajan, Rostropowitsch … der Moment war entscheidend, das, was wir jetzt hier im Raum erleben – und nicht das perfekte digitale Produkt, das oft leblos wirkt.

Schubert: Arpeggione-Sonate a-Moll D 821, 3. Satz

Pieter Wispelwey (Violoncello), Paolo Giacometti (Fortepiano)

2009, Onyx Classics 

  

Anner Bylsma? Nein? Dann muss es Pieter sein. Ich kenne ihn und ich schätze ihn sehr, ich mag seine radikale interessante ganz eigene Art, wie er aus jeder Note einen Bauch macht und wie ein Maler klare plastische Züge zieht. Doch ich vermisse die Zärtlichkeit: nicht im Klang, sondern in der Phrasierung. Das soll nicht gegen Pieter gehen, er würde das verstehen. Die Cellowelt ist ziemlich überschaubar, ein bisschen wie unter Forschern. Wir treffen uns mehr als andere Instrumentalisten, es gibt viele Cellokongresse, wir tauschen uns aus. Auf dem letzten Treffen in Amsterdam traf ich Maisky und andere, Sol Gabetta bei anderer Gelegenheit – die Atmosphäre ist einfach sehr gut und kollegial.

Dvořák: Cello-konzert h-Moll, 3. Satz 

Mischa Maisky (Violoncello), Israel Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein (Leitung)

1989/1996, DG

 

Das ist bestimmt eine Live-Aufnahme! Das Finale. Ziemlich heroisch gespielt und extrem engagiert. Rostropowitsch? Nein? Maisky. Ob seine fünf Jahre im Lager zu dieser vehementen Art zu spielen beigetragen haben? Ja, wahrscheinlich ja. Das Instrument bekommt einen ganz anderen Stellenwert im Leben … dieses „Es muss sein!“ Viele werfen ihm ja vor, es ginge bei ihm nur um sein Leid und seine Biographie … Rostropowitsch hatte auch seine Erfahrungen mit dem sowjetischen System, durfte über Jahre nicht hinaus und nur in Schulen mit lauten Kindern oder in Fabriken unterrichten. Das prägt einen Künstler.

Britten: Cellosonate Nr. 1  

Truls Mørk (Violoncello)

Virgin Classics 2000

  

Die Fuge aus der ersten Britten-Sonate. Nein, das ist nicht Rostropowitsch, ich würde auf einen skandinavischen Künstler tippen. Truls Mørk? Das habe ich am Klang erkannt, ein sehr edler, ästhetischer, sehr definierter Klang. Sehr schön. Ich respektiere das wirklich, wenn jemand jede Note wirklich schön spielt. Aber vielleicht könnte man andere Schwerpunkte legen, womit ich keinesfalls meine, dass Truls nur sehr schön spielt. Er genießt sehr viel Respekt unter uns Kollegen, während Maisky eher Polemik auslöst. Es gibt eben Menschen, die spalten die Gemüter, die werden entweder leidenschaftlich geliebt oder gehasst – Truls nicht. Ich kenne keine bösartige Kritik über ihn. Wir sind alle Menschen, wollen alle geliebt werden und mögen es natürlich nicht, wenn wir nicht so gut waren, dies am nächsten Tag in der Zeitung lesen zu müssen.  

Penderecki: Cellokonzert Nr. 2 

Mstislaw Rostropowitsch (Violoncello), Philharmonia Orchestra, Krzysztof Penderecki (Leitung)

1986/2004, Warner Classics

Eine sehr zarte Fassung … das ist von den Streichern her unglaublich durchsichtig musiziert – aber ich kann nicht sagen, wer das gespielt hat … ist das wirklich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks? Das hätte ich jetzt nicht erwartet, muss ich ganz ehrlich sagen.

Haydn: Cellokonzert Nr. 1, C-Dur – 3. Satz

Yo-Yo Ma (Cello), English Chamber Orchestra, José-Luis Garcia (Leitung)

1979/1993, Sony Classical

Ich kenne das Werk nicht. Wann kommt endlich das Cello? (Queyras spult vor). Ah, ja, da ist es. Ich würde es riskieren … Penderecki? Und Rostropowitsch? Von der Tonaufnahme könnte er es sein, er wollte die Mikrophone immer ganz nah an seinem Instrument. Der Klang war dadurch nicht immer schön, aber er wollte stets den direkten Kontakt zum Publikum haben. Man sollte ihn sehen und er wollte das Publikum sehen. Der Bogen liegt auf den Saiten, es gibt wenige Schwankungen, aber genau das hat mich als junger Mensch unglaublich fasziniert und nicht losgelassen. Diese Kraft! Dieses Charisma! Und dann seine Präsenz. Später schwärmte ich dann für Yo-Yo Ma, habe jede CD von ihm gekauft.

 

J. S. Bach: Cellosuite Nr. 2 d-Moll BMV 1008 Gigue 

Heinrich Schiff (Violoncello)

1985/2005, EMI Classics

 

Gute Artikulation, wer könnte es sein? Junge Generation? Ist das wirklich Heinrich? Schon wieder ein Schock. Als die Aufnahme herauskam, in der 1980ern, war sie ein riesiger Erfolg. Mich hatte sie allerdings nicht so ergriffen, es war ein bisschen wie jetzt. Es ist eine sehr intelligente Interpretation, Heinrich ist ein fantastischer Cellist, ein toller Lehrer, der viele Studenten geprägt hat. Aber irgendetwas fehlt mir …

Beethoven: Cellosonate Nr. 5 D-Dur op. 102,2 – 2. Satz 

Pablo Casals (Violoncello), Rudolf Serkin (Klavier)

 1953/2013, Sony Classical

  

(Kaum sind zwei Takte erklungen, schon drückt Queyras auf Stopp) Hier ist das, was mir in  der vorangegangen Aufnahme gefehlt hat. Herz! Das kann nur Casals sein, ich habe es  schon im ersten Takt gehört. Schauen Sie meinen Arm an, ich habe Gänsehaut! Hach! Der  ist einfach unglaublich! Der hat einen direkten Zugang zur Seele! Und alle, die ihn erlebt haben, sagen, ihr Leben sei danach anders gewesen. Es ist so schwer, dies in Worte zu fassen. So zu spielen, ist mein Traum, mein Ziel! Obwohl, wenn man genau hinhört, nichts perfekt ist. Die Akkorde fallen nicht zusammen mit dem Klavier. Aber warum sollten so begnadete Künstler auch wie zwei Roboter zusammenfallen?

 C. P. E. Bach: Cellokonzert A-Dur Wq 172/H439, 1. Satz

Anner Bylsma (Violoncello), Orchestra of the Age of Enlightment, Gustav Leonhardt  (Leitung)

 1988/2000, Virgin Veritas

  

Alles sehr klar, sehr gut phrasiert. Historisch informiert. Ich glaube nicht, dass es Anner ist,  der ist normalerweise frecher, eigenwilliger. Doch? Das kann nicht sein! Ich kenne Anner  seit langem: Mit Anfang 20 war ich in einem Meisterkurs von ihm. Ich konnte vorher nicht Bach spielen – danach konnte ich es. Der Mann hat meine Wahrnehmung geändert. Der zweite Mann, der meine Wahrnehmung änderte, war Pierre Boulez: Zehn Jahre war ich in seinem Ensemble Contemporain. Dort lernte ich Emotionen niemals als Pose darzustellen oder hinauszuposaunen, sondern verinnerlicht darzubieten. Dass wir bei jeder Uraufführung mit so vielen Komponisten arbeiten durften, hat mich unglaublich weitergebracht.

 Dowland: Lachrimae Antiquae

 The Consort of Musicke

 1976/1997, DECCA

  

Dowland, Gamben. Das ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin: Meine Eltern liebten  Alte Musik. Meine Kindheit war alternativ, ich bin in Montreal geboren, wuchs aber in der  Provence in einer Ruine auf, die meine Mutter und mein Adoptivvater restaurierten. Sie lebten dort von der Töpferei. Mit neun hörte ich im Dorf einen Dreizehnjährigen am Cello – und ich verliebte mich sofort in das Cello. In meinen Zwanzigern finge ich mit der Gambe an, verfolgte dies nicht weiter, weil ich einfach keine Zeit hatte. Dennoch bin ich immer noch fasziniert von dem sphärischen Klang der Gambe.

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