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Blind gehört Joja Wendt

„Da kommt ja nie einer drauf“

Pianist Joja Wendt hört Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonJohann Buddecke,

„Moin, hast du gut hergefunden?“, grüßt Joja Wendt bestens gelaunt im schicken Loft seiner Produktionsfirma im Westen Hamburgs. „Möchtest du ’nen Kaffee? Ich habe hier schon alles vorbereitet“. Zwölf Titel stehen auf der geheimen Playlist für den heutigen Vormittag. Lässig zurückgelehnt lauscht der Star-Pianist den ersten Tönen.

Mozart: Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll KV 466 – 1. Allegro

Keith Jarrett, Stuttgarter Kammerorchester, Dennis Russel Davis (Leitung)
ECM

Okay, wer war denn großer Mozartinterpret? Es ist kein großer Mozartinterpret? Wenn du nun auf den Jazz anspielst: Gulda war eher auf der Beethoven-Seite, hat aber auch Mozart gemacht. Ist das ein deutscher Pianist? – Es gibt einen Boogie-Teil? Das ist Keith Jarrett! Ich wusste gar nicht, dass er ein Mozart-Klavierkonzert aufgenommen hat. Von den Goldberg-Variationen wusste ich, aber Mozart? Jarrett war immer mehr kontrapunktisch unterwegs. Auch im Jazz-Kontext. Man merkt hier auf komische Weise, dass es kein dezidierter Pianostar in dem Genre ist. Die Phrasierungen sind ganz komisch. Trotzdem ist es unglaublich musikalisch.

Chopin: Prelude Nr. 2, Mock Up

Chick Corea, Miroslav Vitous (bass), Roy Haynes (drums)
ECM 1984

Es schwebt total. Das muss ein zeitgenössischer Pianist sein. – Er ist bereits verstorben? Aber es gibt viele, die in diesem Duktus musizieren. Ist es ein Asiate? Es ist jemand, der den Sound von Jarrett adaptiert hat. – Das ist Chick Corea? Nicht dein Ernst! Corea und Hancock haben beide bei Miles Davis gespielt. Jarrett übrigens auch. Man kennt das Melancholische hier eigentlich gar nicht von Corea. Außerdem ist er nicht bekannt dafür, solo zu spielen. Ich wüsste nicht, dass ich mir mal ein Soloalbum von Corea angehört habe. Jarrett hat ja im Grunde das Soloklavier im Jazz etabliert. Next!

Schostakowitsch: Jazz Suite Nr. 1 – Foxtrott

Ronald Brautigam, Royal Concertgebouw Orchestra, Riccardo Chailly (Leitung)
Decca 1992

Ganz was anderes. Auf jeden Fall ein Foxtrott. Erkennt man am Rhythmus. Was ist denn das? Ich flipp aus, das ist ja Schostakowitsch! Das sollte ich mal spielen. Da kommt ja nie einer drauf. Super Aufnahme.

J. S. Bach: Partita Nr. 2 c-Moll BWV 826 – Capriccio

Glenn Gould
Sony 1960

Glenn Gould! Ich übe das Stück momentan viel. Diese Gegenstimmen sind großartig. Glenn Gould ist einfach der Partita-Typ! Er legt manchmal unfassbare Tempi vor. Und wie er hier quasi mit jeder Note ringt. Aber eigentlich nagelt er das noch mehr. Das ist eine spätere Aufnahme, die sehr musikalisch klingt.

J. S. Bach: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565

Jacques Loussier Trio
Telarc 2004

Das Stück kennt jeder, klar. Aber dieses verstimmte Klavier. Das ist bestimmt Jacques Loussier. Er hat wirklich Maßstäbe gesetzt, als er die klassische Musik mit dem Jazz kombiniert hat. Nach heutigen Maßstäben würde man vielleicht sagen, die Art und Weise ist etwas zickig. Man würde es heute wohl anders machen. Aber man darf den Kontext der Zeit damals nicht vergessen. Er war schließlich der Erste, der sich sowas überhaupt getraut hat. Das war ja ein Sakrileg. Klassische Musik und Jazz zu verbinden, das ging gar nicht, und schon gar nicht Bach! Aber Loussier war das egal. Außerdem: Sobald einer sagt, dass man das oder jenes nicht machen kann, hat der sich selbst schon diskreditiert. Man kann alles machen. Wenn es dann noch ein großes Publikum findet, ist klar, wer recht hatte. Mich nimmt das mit!

Rachmaninow: Prélude cis-Moll op. 3/2

Alexander Krichel
Berlin Classics 2023

Das kenne ich zufällig. Ich weiß auch, dass das Alexander Krichel spielt. Er ist einer der musikalischsten Menschen, die ich kenne. Ich habe ihn kennengelernt, da war er gerade mal zwölf Jahre alt. Heute spielt er sackschweres Repertoire. In meinen Augen gehört er zu den führenden Stars am Klavier. Dazu ist er ein entzückender Typ. Ich liebe dieses spätromantische Repertoire. Übrigens war das ein Zufall, dass ich das erkannt habe. Er macht am Anfang eine extrem lange Pause, die signifikant ist für diese Aufnahme. Diese Pause entlarvt ihn. Er wartet quasi zwei Stunden, bis es losgeht.

Gershwin: Rhapsody in Blue

Columbia Symphony Orchestra, Leonard Bernstein (Klavier & Leitung)
Sony 1959

Da gibt es viel drüber zu sagen. Gershwin hatte einen Klavierlehrer, der gesagt hat, er müsse die klassische Musik beherrschen. Er ist aber in New York von überall mit Jazzmusik berieselt worden. Und ja, das Ergebnis ist das! Er ist zum Hybrid geworden. Ravel hat in Europa dann zu ihm gesagt, dass er keinen Unterricht von ihm benötigt. Warum willst du ein zweitklassiger Ravel werden, wenn du ein erstklassiger Gershwin bist? Unter Klassikern wird es leider ein bisschen belächelt. Als wäre es nicht Fisch und nicht Fleisch. Die Klavierkadenz in der Mitte hat Gershwin übrigens immer frei improvisiert. Als er dann einmal für den amerikanischen Präsidenten spielen sollte, war er so nervös, dass er sich eine entsprechende Kadenz aufgeschrieben hat. Das ist die heutige Version. Oh, warte, lass es mal laufen! Diesen Teil hier habe ich immer gehasst (lacht). Schnell weiter!

Ellington/Tizol: Caravan

Iiro Rantala, Adam Baldych (Violine)
ACT 2012

Absoluter Wahnsinn! Wer ist das? – Den Pianisten sollte ich kennen! Das war immer das Paradestück von Michel Petrucciani. – Iiro Rantala? Wer? Nie gehört. Es gibt viele Typen, die das so geil spielen. Aber so? Wahnsinn! Das ist natürlich komplett von einem intellektuellen Standpunkt heraus entwickelt. Laien würden sich fragen, was das für ein Geschrubbel ist. Die rhythmischen Verschiebungen sind extrem virtuos. Für den Hintergrund ist das nicht geeignet. Viel zu aufregend.

Beethoven: Sonate Nr. 14 cis-Moll op. 27/ 2 – 3. Presto agitato

Arthur Rubinstein
RCA 1962

Muss ich wissen, wer das ist? Der Pianist lebt nicht mehr? Es ist so traurig, wenn solche Talente sterben. Da geht so viel Musik flöten. – Rubinstein! Es gibt diese eine Geschichte von ihm, wo er irgendwo eine Polonaise von Chopin gespielt hat. Er fing an und es stimmte einfach von vorn bis hinten nicht eine Note. Es war einfach völlig falsch, alles! Als er dann fertig war, sprang das Publikum auf und johlte und klatschte. Er hat wahnsinnig musikalisch gespielt. Toller Typ!

W. C. Handy: St. Louis Blues 

Duke Ellington, Johnny Hodges (Saxofon)
Verve Records 1959

Wenn wir Glück haben, ist es Duke Ellington. – Nicht dein Ernst! Das Original ist von W.C. Handy. Mein Vater hat es immer so gerne gepfiffen. Es besteht aus einem Moll-Part und einem Dur-Part. Die alten Jazzer phrasieren es viel selbstverständlicher als die jungen heutzutage. Das ist im Prinzip überhaupt keine leichte Musik. Wenn man da richtig rangeht, ist das extrem schwer. Ellington und Hodges waren natürlich Jazzclub-gestählt. Die haben ihr Leben damit verbracht, es so hinzubekommen. Meine Güte, wie das swingt. Was hast du noch?

Gloria’s Step Live at The Village Vanguard

Bill Evans Trio
Craft Recordings 1961

Das ist genau meine Welt. Diese Aufnahme habe ich geliebt. Ich habe eine Sammlung aller Riverside-Aufnahmen von Bill Evans. Am Anfang hatte ich mit der Cool-Jazz-Ära so meine Schwierigkeiten. Übrigens hat er auch bei Miles Davis gespielt. Wir als Studenten haben das früher aufgesogen. Alles, was Evans hier an inner voicings macht. Sehr nett von dir, dass du mir da entgegenkommst (lacht).

The Shout

Art Tatum
Verve Records 1935

Ich spiele das Stück so gern. Ich kenne dieses Stück von innen und von außen. Art Tatum ist der Godfather des frühen Jazzpianos. Der Vater von Oscar Peterson hat, als Oscar Peterson an der Highschool seine ersten Erfolge feierte und etwas übermütig wurde, ihm Aufnahmen von Art Tatum besorgt. Der dachte tatsächlich, das seien zwei Pianisten. Als sein Vater dann aber meinte, dass es nur ein Typ ist, hat er das Klavier monatelang nicht angerührt. Ich habe das übrigens in einer Zeit studiert, wo das überhaupt nicht in war. Meine Kumpels hielten mich für verrückt.

Buch-Tipp:

Spiel doch mal leiser!

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