In Konzerten dirigiert Jukka-Pekka Saraste mit elegantem Schwung – in Proben jedoch ist er ein ruhiger Anwalt der Musik. Der Finne redet wenig und stets wohl überlegt. So auch während unserer „Blind gehört“-Sitzung im Funkhaus am Kölner Dom: Bis 2019 amtiert der Chef des WDR Sinfonieorchesters hier noch – im Interview indes blickte Saraste zurück in die 90er Jahre, als er sich als Leiter des Finnish Radio Symphony Orchestra und des Toronto Symphony Orchestra einen Namen machte.
Sibelius: Sinfonie Nr. 4, 3. Satz – Il tempo Largo
New York Philharmonic, Leonard Bernstein (Leitung)
1986, Sony Classical
Das ist der ziemlich entspannte, langsame Satz aus Sibelius’ vierter Sinfonie. Es ist definitiv nicht der finnische Klang, den man hier hört … es erinnert eher an französischen Impressionismus. Wie die Phrasen ausgespielt werden, entspricht nicht meiner Vorstellung … könnte ein amerikanisches Orchester sein. Ich habe diese Flötenpassage zu Beginn noch nie so gehört, jedenfalls in keiner mir bekannten Aufnahme: Es ist da ein Espressivo drin, das einfach nicht zum finnischen Geschmack passt… Bernstein? Ich bin erstaunt, dass der Klang so weich ist bei dieser Aufnahme. Aber Sibelius ist eben ein Komponist, der völlig unterschiedliche Interpretationen zulässt.
Nielsen: Sinfonie Nr. 2, 1. Satz – Allegro collerico
San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Leitung)
2014, Decca
Ich denke, dieser erste Satz aus Nielsens Zweiter klingt am meisten nach Mahler. Es ist dieser schnelle Wechsel der Gefühle … eine exzellente Aufnahme! Ich würde auf Blomstedt tippen: Ich kenne ihn sehr gut, er ist eine vitale Persönlichkeit und einfach ein Top-Dirigent. Ich respektiere seinen Nielsen vollkommen: Das ist genau so, wie diese Musik klingen sollte. Die Sinfonie habe ich auch selbst schon aufgenommen mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra.
Lindeberg: Violinkonzert, 1. Satz
Lisa Batiashvili (Violine), Finnish Radio Symphony Orchestra, Sakari Radio(Leitung)
2007, Sony Classical
Ich weiß nicht, wer das Stück sonst noch aufgenommen hat. Aber ist das Lisa Batiashvili? Das Orchester ist vom Finnish Radio, das ich lange geleitet habe. Es ist eine Weile her, dass ich diese CD hörte. Ich habe das Konzert mit anderen Interpreten gespielt – aber sie ist einfach unglaublich! Sie macht aus Lindberg fast einen Romantiker: Als ich das mit Pekka Kuusisto aufgeführt habe, klang das ganz anders – wie zeitgenössische Musik. Aber ich denke, Lindberg wollte zeigen, dass man auch heute noch ein Konzert mit einem blühenden Ton schreiben kann. Ich würde es zu den besten Violinkonzerten unserer Zeit zählen, neben denen von Salonen und Adès vielleicht. Ich kenne Lindberg ja gut, wir studierten zusammen an der Musikakademie in Helsinki. Er ist ein enger Freund und hat bereits drei Stücke für mich geschrieben, darunter Feria.
Mahler: Sinfonie Nr. 3, 3. Satz – Comodo. Scherzando
Gürzenich-Orchester Köln, Markus Stenz (Leitung)
2012, Oehms Classics
Das ist wieder eine völlig andere Art, Musik zu machen. Dieser Satz hat eigentlich einen leicht verrückten Charakter. Für mich klingt diese Interpretation aber wie jede Musik, die ordentlich geprobt wurde und nun gut gespielt wird – es ist aber nicht so wie ich Mahlers Musik fühle … Das ist die Aufnahme des Gürzenich-Orchesters? Ich habe schon von ihr gehört – ist mir aber zu poliert. Mahlers Dritte habe ich mal mit Bernhard Haitink erlebt, das gefiel mir viel besser …
Grieg: Lyrische Suite op. 54, 3.Satz – Notturno
WDR Sinfonieorchester Köln, Eivind Aadland (Leitung)
2013, Audite
Das ist schön. Das klingt sehr gut … Tatsächlich mein eigenes Orchester? Dann ist das Aadland. Ich selbst habe dieses Stück nie dirigiert, ist gar nicht in meinem Repertoire. Leider hat Grieg nicht so viel für Orchester geschrieben, die beiden Sinfonien sind ja eher Studien und keine gut ausgearbeiteten Werke … Eine wirklich gute Aufnahme!
Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6 „Pathétique“, 3. Satz – Allegro molto vivace
Leningrad Philharmonic Orchestra, Yevgeni Mrawinsky (Leitung)
2006, DGG
Das ist ja ein schnelles Tempo! Okay, Chapeau! Das ist ein wahnsinniges Tempo für diesen Satz. Aber die können das spielen. Vermutlich ist es ein russisches Orchester … Mrawinsky? Die Kontrabässe habe ich in keiner Aufnahme mit so viel Power gehört. Das ist eine ganz spezielle Art der Bogenführung, die typisch ist für die russische Schule.Und sie spielen alle perfekt synchron! Mrawinskys Aufnahmen beeindruckten mich früh durch ihre klaren Linien und diese rasanten Repetitionen im Orchester. Toll, wie die das damals musiziert haben, einfach ohne Kompromisse.
Johannes Strauss: „Pizzicato-Polka“
Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber (Leitung)
1989, Sony Classical
Das war mein erstes Übungsstück als junger Dirigent: Es gibt so viele kapriziöse Sachen, die man darin machen kann. Das ermutigte mich, Orchestermusik mit diesem freien Geist zu erfüllen – die „Pizzicato-Polka“ war der Schlüssel dazu. Es ist ein sehr schweres Stück: Die Musiker müssen reaktionsschnell und mit kollektiven Rubati spielen. Live ist es aber eine der spaßigsten Nummern, die man machen kann. Könnte Kleiber sein vom Neujahrskonzert … jener Flexibilität, die mir mein Kompositionslehrer Jorma Panula damals vermittelte, kommt das hier schon ziemlich nahe. Die Wiener haben diese Musik natürlich ganz im Blut.
Brahms: Ein Deutsches Requiem, 2. Satz
Dorothea Röschmann, Thomas Quasthoff, Berliner Philharmoniker, Rundfunkchor Berlin, Simon Rattle
2007, Warner
Das ist genau so wie ich das Stück vor zwanzig oder dreißig Jahren empfand. Doch später habe ich meine Meinung darüber geändert: Den Sinn des Textes kann man in diesem langsamen Tempo nicht rüberbringen, jedenfalls heutzutage nicht mehr … Die Berliner Philharmoniker unter Rattle? Alles klar. Karajan hat das in seiner letzten Aufnahme mit den Wienern ganz ähnlich gemacht – aber ich fühle hier nicht den treibenden Marschcharakter dieses Satzes. Ich würde ihn rascher dirigieren und viel intensiver.
Mozart: Sinfonie Nr. 39, 2. Satz – Andante
Columbia Symphony Orchestra, Bruno Walter (Leitung)
1960, Sony Classical
Ja, so wurde das in den 60ern und 70ern gespielt. Mozart Sinfonie Nr. 39 war der Grund, wieso ich professioneller Musiker wurde. Man hört viel Wertvolles in dieser Interpretation, es ist aber nicht gänzlich romantisch musiziert. Klingt trotzdem sehr objektiv, vielleicht sogar etwas sachlich – es hat aber auch viel Wärme in sich. Es treibt nicht voran, sondern lebt ganz den Moment aus … Bruno Walter? Ich bin sicher, das spricht sehr viele Menschen an. Vielleicht werden wir eines Tages zu dieser Art des Musikmachens zurückkehren. Aber die Interpretation hat sich seither vollkommen gewandelt. Ich erinnere mich übrigens an eine Art „Blind gehört“ im privaten Kreis, bei dem wir Mozarts g-Moll-Sinfonie in verschiedenen Einspielungen hörten. Bei der letzten Aufnahme fingen alle an zu lächeln: Sie stammte von Karl Böhm und den Wiener Philharmonikern und schien aus einer ganz anderen Welt zu kommen …
Rachmaninow: Klavierkonzert Nr.2, 1. Satz
Yuja Wang (Klavier), Mahler Chamber Orchestra, Claudio Abbado (Leitung)
2011, Deutsche Grammophon
Ich habe dieses Konzert letztes Jahr mit Anna Vinnitskaya gemacht. Viele Leute sagen, dass Rachmaninow seine eigene Musik nicht mochte; doch ich glaube das nicht. Er selbst hatte stets diese Strenge, spielte seine Werke in Aufnahmen eher linear und ausgewogen. Heute achtet man mehr auf den Instrumentenklang an sich und weniger auf die Geradlinigkeit einer Interpretation. Als ich das Stück einmal mit Krystian Zimerman einstudierte, sprachen wir viel darüber – etwa darüber, welche Temposchwankungen und Weichheit diese Musik verträgt … Bei dieser Aufnahme gehen viele Klavier-Passagen völlig unter. Es ist schwer, in diesem Satz das Orchester und den Solisten in guter Balance zu halten. Der Pianist muss eigentlich mit größerer Kraft spielen als hier.
Bach: Fantasie & Fuge c-Moll BVV 537
Los Anglees Philharmonic Orchestra, Esa-Pekka Salonen (Leitung)
1999, Sony
Ich weiß nicht, wer das bearbeitet hat. Es bringt das Original in ein riesiges Format, als würde die Musik in zwei Sprachen sprechen … Von Elgar? Tatsächlich? Das ist eigentlich kein Stück, das ich selbst dirigieren würde. Ich kenne auch nur die Stokowski-Orchestration der Toccata und Fuge. Und das soll ein enger Freund von mir gemacht haben? Etwa Sakari Oramo? Ach nein: Esa-Pekka! Auch ein Studienkollege aus Finnland. Er folgte damit wohl dem amerikanischen Geschmack. All diese Arrangements stammen aus einer Zeit, in der das einmal modern war. Heute wohl eher nicht mehr.
Prokofjew: Romeo und Julia Balletmusik, Finale 2. Akt
Toronto Symphony Orchestra. Jukka-Pekka Saraste
2002, Apex
Ich höre nicht oft alte CDs von mir, diese aber bringt mich zur generellen Frage der Aufnahmequalität: Das Ergebnis entspricht überhaupt nicht dem Eindruck, den man hat, wenn man dieses Werk live dirigiert – man hört etwa keinen authentischen Streicherklang. Ich hatte das Problem in der Vergangenheit in verschiedenen Hallen, in denen ich aufnahm: Es klang am Ende nicht natürlich und transportierte nicht die Intensität und Leuchtkraft der Aufführungen. Darüber war ich besonders in Toronto betroffen: Romeo und Julia war meine erste CD-Produktion dort. Wissen Sie, nicht nur der Dirigent und ein Orchester machen eine gute Aufnahme aus, sondern auch die Halle und der Tonmeister.