Die Wurzeln seiner Musik liegen in der Klassik, doch Ludovico Einaudi lässt sich gern von Rock, Pop, Folk und anderen Genres inspirieren. Und das weltweit mit Erfolg, wie neben seinen Orchesterwerken und Kammermusiken vor allem die Film Soundtracks aus seiner Feder zeigen: etwa für „Aprile“ von Nanni Moretti oder die französische Komödie „Ziemlich beste Freunde“. Dabei bezeichnet sich der italienische Komponist und Pianist selbst am liebsten als Minimalisten, geht doch von seinen einfachen, sich oft schier unendlich wiederholenden Melodien nicht selten eine geradezu meditative Wirkung aus.
Und auch beim „Blind gehört“-Interview in einem Berliner Hotel lässt sich der Künstler trotz Termindrucks ob seines bevorstehenden Flugs nach Mailand nicht einen Moment lang aus der Ruhe bringen: weder von dem kleinen tragbaren CD-Spieler in der Suite, der aus einem Technikmuseum stammen könnte und dessen Klangqualitäten ihn beim Rätseln ja eigentlich unterstützen sollten – noch von seiner Unwissenheit hinsichtlich der ihn erwartenden Werke. Stattdessen bestellt sich Einaudi noch vor dem ersten Stück zur mentalen Stärkung erst einmal einen kräftigen Assam-Tee.
Chopin: Klaviersonate h-Moll
Martha Argerich (Klavier)
1999. EMI. The Legendary 1965 Recording
Darf ich spontan sagen, was mir dazu einfällt? Ich habe ja am Konservatorium in Mailand Klavier studiert, doch dieses Stück habe ich nie selbst gespielt. Ich konzentriere mich jetzt ganz auf die Atmosphäre … der Klang scheint aus einer größeren Distanz zu kommen: Es ist fast so, als würde ich sehr weit von der Bühne entfernt in einer Loge sitzen oder alles vom Foyer aus hören – die Musik kommt für mich aus einer anderen Dimension. … Das Klavierspiel ist sehr schön … ich denke, die Aufnahme ist schon älter, aber keine Ahnung, wer der Pianist sein könnte … Ah, Martha Argerich, Chopin. Sehr lebendig. Damals, 1965, war sie noch ganz jung.
Bach/Busoni: Partita Nr.2 d-Moll
Arturo Benedetti Michelangeli (Klavier)
2004.EMI.Great Recordings
Auch diese Einspielung scheint mir nicht neu zu sein – und ich muss sagen, dass mir hier der Klang des Klaviers nicht besonders gefällt, vor allem nicht im unteren Register. Gleich bei den ersten Akkorden hat mich etwas gestört: Der Klang ist nicht rund … Merkwürdig, auf Michelangeli wäre ich nie gekommen: Er war doch bekannt für sein unglaublich gutes Klavierspiel. An Bach habe ich zwar gleich gedacht, doch ich wäre nicht auf Busonis Transkription der Chaconne für Solo-Violine gekommen.
Verdi: Nabucco
Orchester und Chor der Scala, Arturo Toscanini (Leitung), Verdi alla Scala Vol.1
2012. Skira Classica
Nabucco, „Va, pensiero …“. Mit Toscanini an der Scala? Eine sehr schöne Interpretation, die den populären Charakter von Verdis Musik erhält. Das spürt man deutlich, wenn der Chor einsetzt. Eigentlich sollte dieses Stück die Nationalhymne von Italien sein: Das ist wahrscheinlich die Musik, durch die wir Italiener uns am besten repräsentiert sehen. Als ich in den Siebzigerjahren in Mailand studierte, war Claudio Abbado Musikchef an der Scala. Damals habe ich dort sehr viele Opern gehört – am liebsten saß ich in einer Loge genau über dem Orchestergraben. In den Jahren mit Abbado herrschte eine große Aufbruchsstimmung, für uns Studenten gab es vergünstigte Karten. Vorher war die Scala nämlich nur ein Theater für die reiche Oberschicht gewesen.
Giordano: Andrea Chenier, Catalani: La Wally
Maria Callas
1990.EMI
„La mamma morta“ – das hier ist Maria Callas, ganz eindeutig. Als ich nach Mailand kam, trat sie schon nicht mehr an der Scala auf. Ihre besondere Aura war aber noch deutlich zu spüren: Man meinte ihre Stimme zu hören, sobald man das Opernhaus betrat. (hört das nächste Stück) „Ebben? Ne andrò lontana“ aus Catalanis Oper La Wally: Diese Arie hat sich mir noch stärker eingeprägt. Sie kommt auch in dem Film Diva von Jean-Jacques Beineix vor. Als ich ihn Anfang der Achtzigerjahre sah, war ich von der Musik total beeindruckt: Wunderschön! Wer eine solche Arie in einem Film hört, wird dadurch vielleicht neugierig auf die gesamte Oper: Es ist so, als würde man ein Gemälde nicht mehr in einem Museum neben Hunderten anderen Bildern sehen, sondern außerhalb dieses Kontextes. Der Bezug zu unserem eigenen Alltag kann in solch einer Situation viel stärker sein.
Puccini: Turandot
Jonas Kaufmann (Tenor), Antonio Pappano (Leitung)
2015. Sony Classical
Puccini, Turandot… gefällt mir sehr gut. Das Timbre und die Klangfarben sind wundervoll. Eine neue Einspielung? … Jonas Kaufmann also – eine sehr gefühlvolle Interpretation. Antonio Pappano ist ein fantastischer Dirigent, der aus seinem Orchester einen unglaublichen Klang herausholt.
Beethoven: 9. Sinfonie
Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado (Leitung)
2008. Deutsche Grammophon
Beethoven, die Neunte! Vielleicht mit Bernstein? Nein? … Ah, Abbado! Ich weiß noch, wie er mit den Berliner Philharmonikern und Solisten 2001 in der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom alle Sinfonien und Klavierkonzerte von Beethoven aufführte. Sein Freund Maurizio Pollini war auch dabei.
Nono: Prometeo
ensemble recherche, Solistenensemble des SWR Sinfonieorchester
2007. col legno
Prometeo von Luigi Nono …? Gut, dass ich jetzt nicht aus Versehen auf Luciano Berio getippt habe, meinen Kompositionslehrer am Konservatorium: Die beiden mochten sich nämlich nicht besonders. Trotzdem war ich 1984 gemeinsam mit Berio in Venedig bei der Uraufführung von Prometeo, die Abbado dirigierte. Ich erinnere mich noch genau an die Atmosphäre in der baufälligen Kirche San Lorenzo und an die großartige Holzkonstruktion Renzo Pianos, in der die Musiker spielten.
Rota: The Godfather
Filarmonica della Scala, Roccardo Muti (Leitung)
1997. Sony Classical
Jetzt sind wir im Kino, stimmt’s? Nino Rota, ich habe ihn sofort an den Farben der Orchestrierung erkannt. Ein wirklich großartiger Komponist.
Wong kar-wai: In The Mood for Love
Original Soundtrack
2000. Virgin France
Ein chinesischer Film … Moment mal …Wong Kar-Wai, In the Mood for Love! Ich habe ihn im Kino gesehen, die Musik ist toll. Ich erinnere mich auch an die Farben im Film: Wenn diese Melodie beginnt, hat man alles gleich wieder vor Augen. Die Musik passt genau zur Handlung und wird in manchen Momenten sogar zur Protagonistin.
Einaudi: In a Time Lapse
Ludovico Einaudi (Klavier), I Virtuosi Italiani, Daniel Hope (Violine)
2013. DECCA
Das ist ja eines meiner eigenen Stücke mit dem Geiger Daniel Hope. Was wir gerade hören, ist sehr lyrisch und eindringlich. Wir haben mit ihm alles zwei Mal aufgenommen. Hinterher war es schwierig, sich für eine der Versionen zu entscheiden. Er hat die Musik sofort perfekt interpretiert.
Misha Mullov Abbado: New Ansonia
2015. Edition Records
Ich wüsste nicht, wer das geschrieben haben könnte … Mein erster Eindruck ist, dass ich solch eine Musik schon öfters gehört habe – wenn man weiter zuhört, merkt man jedoch, dass diese Stücke einen ganz eigenen Charakter haben … Aha, Misha Mullov Abbado, der Sohn von Claudio und Viktoria Mullova. Sein Debütalbum? Er spielt Kontrabass, nicht wahr? Was ich höre, klingt für mich ziemlich amerikanisch beeinflusst. Auf jeden Fall interessant.