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Blind gehört Markus Stenz

„Das funkelt und tanzt sehr schön“

Der Dirigent Markus Stenz hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt.

vonThomas Jakobi,

Dem Wohnort Köln wird der gebürtige Rheinländer treu bleiben: Nach Holland sei es ja nur ein Katzensprung, sagt Markus Stenz. In Hilversum liegt seine neue Wirkungsstätte, nachdem er bis 2014 über zwölf Jahre am Pult des traditionsreichen Kölner Gürzenich-Orchesters stand. Auch als Chefdirigent des Radio Filharmonisch Orkest werden CD-Aufnahmen für ihn zum Routineprogramm gehören – so wie er umgekehrt gern Einspielungen von Kollegen hört, um neue Werke einzustudieren. Die „Blind gehört“-Situation indes sei für ihn Neuland, sagt Stenz.

Bruckner: Sinfonie Nr. 4 „Romantische“

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache

1988, EMI Classics 

 

(Nach wenigen Takten deutet Stenz auf eine vor ihm im Regal stehende Celibidache-Biografie) Das ist doch er hier, ganz klar. Celibidache und Bruckner, das ist ein eigenes Kapitel. Das sind für mich auch viele persönliche Erinnerungen, wie ich damals in den 80ern als Student nach München kam, um zu hören, was macht der da mit dem Bruckner. Diese ganze Diskussion, darf es überhaupt Aufnahmen geben oder zählt nur der Live-Moment, das hat mich schon sehr elektrisiert damals. Also, zum Höreindruck: Ich finde bewundernswert, wie groß angelegt das ist, man merkt, mit welcher Detailfreude und welcher Hingabe das gespielt ist. Eine wirklich toll gearbeitete und auch empfundene Interpretation, sicher eine Referenz. Aber ich finde, in der Romantischen ist mehr Überschwang, mehr appassionato möglich. Ich bin mir nicht sicher, ob mich das packt, das ist ein zelebrierter Bruckner, fast um des Zelebrierens willen.

Henze: Sinfonie Nr. 7

City of Birmingham Symphony Orchestra, Simon Rattle (Leitung)

1992, EMI Classics 

 

Die Siebte von Henze … Da gibt es nicht so viele Aufnahmen. Ich denke, das müsste die mit Rattle sein. Man merkt einfach diesen blitzwachen Verstand für die Stimmführung, aber auch diesen impulsiven Drive. Das Stück selbst hat auch diesen Drive, gerade der erste Satz, überschrieben mit „Tanz“ – und das funkelt und tanzt sehr schön, eine ganz tolle, auch das eine Referenz-Aufnahme!

Beethoven: Sinfonie Nr. 5

NDR Sinfonieorchester, Günter Wand (Leitung)

1992, RCA 

  

Eine ganz traditionelle Auffassung vom Beethovenschen Musizieren, sehr „quadratisch“, was dem Kopfsatz sehr gut tut. Man merkt der Aufnahme an, dass sie unbestechlich und kraftvoll ist. Mir persönlich liegt da allerdings näher, was man über historische Aufführungspraxis herausgefunden hat. Die Art, wie Wand das hier macht, klingt für mich ein wenig out of date. Aber ich höre natürlich, wie die Töne nicht abreißen, wie die Bögen gespannt sind, wo Verbindungen hergestellt werden, wie die Klangfarben gestaltet sind – man merkt da einfach eine Akribie, eine Liebe zum Detail, das ist schon bestechend.

Schumann: Sinfonie Nr. 3 „Rheinische“

Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt (Leitung)

1993, Teldec 

 

Das „stakst“ doch ziemlich … da vermisse ich das Phantasievolle, was bei Schumann ganz wichtig ist. Harnoncourt? Da bin ich einigermaßen überrascht. Dieses Gravitätische, das man hier in der Rheinischen in jedem Takt hört, damit komme ich nicht so gut klar, muss ich sagen. Da gibt es so viele Kleinigkeiten, die man mehr rauskitzeln müsste. Es ist schon stark, es ist so ein Hardrock-Schumann, aber es hat für mich zu viel Gravitas.

Reger: Romantische Suite

Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann (Leitung)

2013, Profil Medien 

Das Stück ist mir jetzt gar nicht so vertraut … Romantische Suite von Reger, eine echte Entdeckung, da bekommt man ja Gänsehaut! Sehr spannend, diese schnelle Abfolge von Stimmungen und Klangfarben spricht mich sehr an. Wer hat das vorgelegt? Ah ja, die Staatskapelle und Thielemann. Ganz toll, gefällt mir wirklich gut!

Mahler: Sinfonie Nr. 4

Concertgebouw Orchestra Amsterdam, Bernard Haitink (Leitung)

1967, Philips 

(Nach wenigen Takten) Ah, herrlich … das lebt, da ist kein Takt genau wie der andere. Das ist eine Aufnahme, die wirklich Spaß macht. Concertgebouw, sagen Sie? Eine ältere Aufnahme? Dann ist es Haitink, oder? Ja, eine ganz tolle Aufnahme. Einfallsreich, mit viel Feingefühl für Binnenspannungen. Man ist ja bei Mahler sofort verloren, wenn das einfach nur in einem Tempo steht, und hier ist das sehr schön situativ, auf die jeweiligen Motive eingehend, nuanciert, spielfreudig, wirklich ganz hervorragend!

Ravel: Valses Nobles et Sentimentales

Cleveland Orchestra, Pierre Boulez (Leitung)

1994, Deutsche Grammophon 

  

Das hat etwas sehr Französisches – ja, Ravel, das ist sehr raffiniert, macht Spaß zu hören! Ich finde, dass die CD etwas abdunkelt, was da alles an Licht und an Farben ist. Da habe ich jetzt keine konkrete Vermutung, welches Orchester das ist. Aber das ist eine Aufnahme, die mit ihrer Raffinesse Laune macht! 

 Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 15

WDR Sinfonieorchester, Rudolf Barschai (Leitung)

 1998, Brillant Classics 

   

Das ist eine starke Aufnahme. Sie schafft, was eigentlich nur wenige Aufnahmen hinkriegen:  Dass man das Gefühl hat von ständiger, fast aberwitziger Spielfreude – man hört diese  Doppelbödigkeit, die man bei Schostakowitsch immer braucht, man hört die Subtexte, eine  sehr beredte Aufnahme – aber auf der anderen Seite ist sie ungeheuer präzise. Normalerweise bekommt man immer nur das eine oder das andere, die Risiko-Bereitschaft, die man braucht, äußert sich in der einen oder anderen Unschärfe. Aber hier hat man beides, Spielfreude und Präzision, sehr beeindruckend!

 Strauss: Don Juan

Berliner Philharmoniker, Gustavo Dudamel (Leitung)

 2013, Deutsche Grammophon 

   

 

 (Beim Hören einer filigranen Bläser-Passage) Oh, super, das ist wirklich gut … Eine sehr  schön musizierte Aufnahme, ein sehr gutes Orchester. An dieser einen Stelle war ich ja echt  beeindruckt, weil das im piano wirklich sehr schwer zu schaffen ist. Das sind die Berliner  Philharmoniker, oder? Welcher Dirigent? Ah, Dudamel, ja – ich war schon versucht, in diese Richtung zu denken. Er hat auch mit dem Gürzenich kürzlich mal Don Juan gemacht, das war ein elektrisierendes Konzert. Er schafft es wirklich, diese besondere Musizierlust herzustellen.

 Schönberg: Gurrelieder 

 Staatskapelle Dresden, Giuseppe Sinopoli (Leitung),  Thomas Moser (Tenor),

 Klaus Maria Brandauer (Sprecher)

 1995, Teldec 

  

 (Nach ein paar Minuten des Orchestervorspiels) Können wir da mal in den Gesangsteil  reinhören? Und in den mit dem Sprecher? … Ach ja, Herr Brandauer, das Charisma ist  unverkennbar. (Stenz sinniert danach lange und ist sichtlich bewegt – er hat sich in seiner Karriere immer wieder intensiv mit dem Werk beschäftigt.) Die Gurrelieder – das ist eines der am schwersten aufzunehmenden Stücke überhaupt. Dieser unermessliche Reichtum an Schichten, an Farben. Das auf eine CD zu kriegen, ist eines der schwierigsten Vorhaben, die es gibt – so ein Sonnenaufgang, wie er am Schluss stattfindet, das ist ein Naturereignis, das kann keine Stereoanlage zuhause. Die Gurrelieder: das Stück ist so überirdisch schön, so etwas Großes, das ist bei mir Schwärmen pur, das ist der absolute Wahnsinn. Daher fällt es mir schwer, hier das professionelle Ohr darauf zu richten, wie ist denn jetzt dieses oder jenes Detail gemacht. Man hört in der Aufnahme, dass mit viel Seele musiziert und gesungen wird, dass diese reichen Farben entstehen, sensibel, mit viel Feingefühl.

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