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Blind gehört Martin Haselböck – Österreich-Spezial

„Klingt wie der letzte Rest der Monarchie“

Dirigent Martin Haselböck hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonSusanne Bánhidai,

Im 3. Bezirk von Österreichs Hauptstadt Wien empfängt uns Martin Haselböck freudig und nervös zugleich für das „Blind Gehört“-Interview zum Schwerpunkt „Musikland Österreich“. Wer sollte dafür besser geeignet sein als der ehemalige Hoforganist der Wiener Hofmusikkapelle, gebürtige Wiener, Gründer und Leiter des Orchester Wiener Akademie Martin Haselböck?

J. Strauss (Sohn): Wiener Blut op. 354

Wiener Philharmoniker, Zubin Mehta (Leitung)
Sony Classical 1990

Wunderbar. Auch eine schöne Aufnahme von dem Stück. Wer war das: Zubin Mehta? Ich bin den Wiener Philharmonikern immer sehr verbunden gewesen, auch als Organist und Cembalist am Anfang meiner Karriere. Mit Mehta durfte ich als ganz Junger erstmals in einem Philharmonischen mitspielen. Meine Beziehung zu Johann Strauss entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer Art Hassliebe. Wir haben die Strauss-Walzer auf den Bällen als Tanzmusik erlebt, jetzt sind sie Konzertmusik geworden und das ist schade. Ich habe schon fast eine Allergie, wenn ich den Donauwalzer im Flugzeug höre. Der Walzer gehört natürlich zur österreichischen Kultur und ist ein großer Exportschlager. Mit meinen amerikanischen Orchestern habe ich viel Strauss dirigiert, den Donauwalzer mit der Wiener Akademie auch einmal aufgenommen. Man muss bei diesen Werken die Mitte finden zwischen Eleganz, Eingreifen und Spielen lassen. Das Bruckner-Jahr hat der Rezeption seiner Musik extrem gutgetan. Es sind so viele Fragen aufgetaucht, die neu beantwortet werden mussten. Bei Johann Strauss ist das schwieriger, weil er so abgespielt ist. Da bin ich gespannt auf das Strauss-Jahr 2025, denn, sollten neue Perspektiven auftauchen, kann es doch noch interessant werden.

Haydn: Sinfonie Nr. 45 „Abschied” – 4. Finale

Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt (Leitung)
Teldec 1997

Ja, die Haydn-Sinfonien. Der Joseph Haydn lag in meiner Jugend immer ein bisschen auf der Seite und wurde nie geprobt, manchmal auch mit fatalen Folgen … Das hat sich enorm geändert! Sandor Végh und Nikolaus Harnoncourt haben das Bewusstsein für dieses Repertoire geschaffen. Végh hat mit seiner intensiven Arbeit in den Streichern die Artikulation enorm vorangebracht. Auch die Beschäftigung mit den Streichquartetten Haydns, bei denen jeder Primarius ja fast ein halbes Violinkonzert spielt, hat die Interpretationen seiner Sinfonien sehr aufgewertet. Hier höre ich einen schönen Orchesterklang, sehr klar artikuliert. Es könnte Végh oder auch Harnoncourt sein, aber ein sanfter. Ah, er ist es? Hier lässt er nicht so ruppig aufspielen, wie man es gewohnt ist. In der Hofmusikkapelle haben die Philharmoniker früher mit den Sängerknaben auch alle Haydn-Messen gespielt. Und damals – als ich dort noch Organist war – habe ich mir gesagt: Das muss sich anders anhören! Daraus entstand mein Wunsch, Dirigent zu werden. Harnoncourt hat da in der Interpretation der Wiener Klassiker viel bewegt. Wobei in den 1930er Jahren schon ein Verständnis da war, das im Krieg verschüttet worden ist. Neulich hörte ich historische Aufnahmen von Mozart-Sinfonien, dirigiert von Alexander von Zemlinsky. Sie kamen ganz nah an den heutigen Originalklang-Sound heran. Die politisch geprägte Glättung der Wiener Klassiker, die vor allem bei Karl Böhm ihre Ausprägung fand, also die Meinung, dass die Welt im und nach dem Krieg böse genug ist, Musik daher lieblich und schön klingen muss, die hat Harnoncourt dankenswerterweise aufgebrochen.

Mozart: Sinfonie Nr. 6 F-Dur KV 43 – 1. Allegro

Mozarteumorchester Salzburg, Hans Graf (Leitung)
Cappriccio

Ich erkenne nicht mal das Stück. Für Gluck ist es zu gut, zu rasant, es könnte ein mittlerer Haydn sein, ein unbekannter. Mozart Nr. 6? Naja, fast. Die frühen Sinfonien vergisst man sehr schnell. Gespielt ist das sehr schön: frisch, vital, sehr artikuliert. Wer könnte es sein? Ah! Das ist Hans Graf und das Mozarteumorchester Salzburg. Ich schätze ihn sehr hoch, auch das Orchester, das sich unter den letzten beiden Chefdirigenten zu höchster Qualität entwickelt hat. Sie haben mehr Verantwortung für Mozart als andere Orchester und werden ihr auch gerecht. Graf ist immer noch sehr aktiv, vor allem in Asien und Amerika. Überdies ist er ein toller Allrounder.

Schubert: Sinfonie Nr. 5 D 485 – 3. Menuetto

L’Orfeo Barockorchester, Michi Gaigg (Leitung)
dhm 2012

 

Wer spielt den Schubert so vital? Ist das die Michi Gaigg? Ja, die schätze ich sehr. Sie führt das zweite Barockorchester unserer Generation hierzulande. Sie widmet sich etwas anderem Repertoire und hat natürlich auch einen etwas anderen Ansatz. Wir haben eine gute Koexistenz gefunden, das ist schön, weil wir in einem Land leben, in dem es für Orchester mit alten Instrumenten immer noch schwierig ist. Für die klassischen Orchester sind wir manchmal noch die „Wurschthaut-Fraktion”, weil wir auf Darmsaiten spielen.

Beethoven: Sinfonie Nr. 7 A-Dur – 2. Allegretto

Orchester Wiener Akademie, Martin Haselböck (Leitung)
Alpha 2015

Vom Tempo her könnten wir es selbst sein. Ja, bitte! Die Idee für dieses Projekt „Beethoven Resound “ entstand während eines Spaziergangs mit der Musikwissenschaftlerin Birgit Lodes. Wir standen an der Ecke bei der Akademie der Wissenschaften und stellten fest, was für ein Glück wir haben, in Wien zu leben. Dass wir hier an der Stelle stehen, wo Franz Schubert als Gymnasiast seine erste Sinfonie komponiert und Beethoven seine siebte Sinfonie gegenüber uraufgeführt hat. Hier verbindet sich der Klang der Originalinstrumente mit der Aura der historischen Aufführungsorte: Theater an der Wien, in der Josefstadt, Redoutensaal, Eroica-Saal und so weiter. Durch die Pandemie entfielen viele Konzerte, aber es entstanden besondere Aufnahmen wie diese, für die auch eine automatisch spielende Trompete der Uraufführung nachgebaut wurde.

Rock me, Amadeus

Falco
Gig Records 1985

Na bitte: der Falco! Das ist ein toller Austro-Pop-Treffer! Es gab in Österreich viele sehr gute Austro-Pop-Künstler, die teilweise auf österreichische Musik-Kabarettisten zurückgehen. Virtuose Klavierspieler wie Gerhard Bronner oder Georg Kreisler prägten mit ihren halbstündigen Radiosendungen, die jeden Sonntag ausgestrahlt wurden, eine eigene Tradition. In dieser sehe ich auch den Falco. „Rock me, Amadeus” war bei weitem sein bester Song.

Kreisler: Liebesleid

María Dueñas, Wiener Symphoniker, Manfred Honeck (Leitung)
Deutsche Grammophon 2023

Ah, Fritz Kreisler, die Wiener Tänze. Es ist nicht Ernst Kovacic, aber wer könnte es sein? Das Orchester ist ja auch von hier, das sind diesmal die Symphoniker. Schöne Aufnahme! Es klingt wie Benjamin Schmid, nein? Dann müssen Sie es mir sagen. María Dueñas – die habe ich noch gar nicht gehört. Ich habe nur von ihr gehört, als sie hier in Wien war. Die Aufnahme gefällt mir sehr, das macht sie toll.

Cerha: Schlagzeugkonzert

Martin Grubinger (Schlagzeug), Wiener Philharmoniker, Peter Eötvös (Leitung)
Kairos 2012

(Hört lange zu) Das ist ein Grubinger-Projekt, nicht wahr? Er spielt auf jeden Fall. Welches Stück hat er mit den Philharmonikern bloß aufgenommen? Ich bin ratlos. Oh! Friedrich Cerha, mein Kompositionslehrer. Ich habe die Partitur des Stückes hier liegen, es aber nie gehört. Ich wollte ihn immer überreden, etwas für die Orgel zu schreiben, das hat ihn aber lange nicht interessiert. Erst mit 86 Jahren schrieb er Orgelpräludien, Interludien und Postludien, die eine Bereicherung für das Repertoire darstellen. Wie im Übrigen auch dieses Konzert. Eine Schande, dass ich es nicht gleich erkannt habe! Ich bin Friedrich Cerha sehr dankbar und finde, er ist „ganz a Großer”.

Schönberg: Kammersinfonie Nr. 1 op. 9

Orchestre de Chambre de Lausanne, Heinz Holliger (Leitung)
Fuga Libera 2022

Klar, Arnold Schönberg und seine Kammersinfonie. Dieser Komponist ist mir sehr nah, er ist ein unglaublich wichtiger Komponist für uns alle und wird immer Teil unserer Arbeit sein. Er wird hier in Österreich auch ausgiebig gewürdigt. Das Arnold Schönberg Center ist höchst aktiv, kein Oeuvre so gut zugänglich und digitalisiert wie das Seine.

Schmelzer: Ciaccona a-Moll

Gunar Letzbor (Violine), Ars Antiqua Austria
Pan Classics 2015

Das ist frühbarocke Wiener Hofmusik. Etwas von Biber oder Schmelzer, die ja beide Geiger waren und eine ganz bestimmte Sinnlichkeit in ihre Musik hinein komponiert haben. Der ganz eigene Ton entsteht durch kirchentonal angehauchte Kadenzierungen und italienische Verzierungsmöglichkeiten. Während meiner Zeit als Organist der Hofkapelle haben wir systematisch Kernstücke dieses Repertoires ausgegraben. Gunar Letzbor war einer der ersten Konzertmeister der Wiener Akademie und hat sich dieser Musik total verschrieben, später ein eigenes, sehr gutes Ensemble gegründet, das Ars Antiqua Austria. Und der muss es hier auch sein! Klingt wie der letzte Rest der Monarchie in Österreich …

Album-Tipp:

Album Cover für Beethoven: Violinkonzert

Beethoven: Violinkonzert

Benjamin Schmid, Orchester Wiener Akademie, Martin Haselböck (Leitung) Aparté

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