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Blind gehört Michael Sanderling

„Ich stehe gerade total auf dem Schlauch…“

Der Chefdirigent der Dresdner Philharmonie und Cellist Michael Sanderling hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonChristian Schmidt,

Viel Zeit hat Michael Sanderling nicht fürs „Blind gehört“-Interview. Schließlich kommt es selten genug vor, dass ihn seine Familie aus Frankfurt in seinem Generalmusikdirektorenzimmer auf dem Dresdner Brauhausberg hoch droben über der Elbe besucht. Und die Söhne Peter und Paul warten schon sehnlich auf den Papa.

 

 Prokofjew: Krieg und Frieden, Ouvertüre

 Orchestre National de France, Mstislaw Rostropowitsch 

 1988. Erato


Das habe ich doch dirigiert! Warten Sie, ich stehe gerade total auf dem Schlauch … Noch mal bitte … das ist doch eine Opernouvertüre! Natürlich, wie konnte ich das vergessen… peinlich. Prokofjew! Meine erste Oper, produziert in Köln. Und eine der wenigen, die ich überhaupt gemacht habe. Das ist Krieg und Frieden, aber so ganz anders, als ich sie sehe: Keine russische Aufnahme, ein westeuropäisches Orchester muss das sein… Wundert mich, dass Rostropowitsch hier so auf der eleganten Seite steht, wo das Stück ja nun gar nichts Elegantes hat. Übrigens heißt es eigentlich „Frieden und Krieg“, weil es für zwei aufeinander folgende Abende konzipiert ist … Es würde mich interessieren, ob das so weitergeht: Das klingt für mich zu weihevoll, zu undramatisch. Leider mache ich zu selten Oper, weil das zu viel Zeit kostet. Bedenken Sie nur, was man in den sechs bis acht Wochen alles für sinfonisches Repertoire studieren kann!  

J. Strauß: Die Feldermaus „Im Feuerstrom der Reben“

Wiener Symphoniker, Willi Boskovsky

1972/97. EMI Classics

  

Ah, drehen Sie mal auf, Operette mag ich gern lauter. Leider habe ich das viel zu wenig gemacht und kann nicht sagen, wer da spielt. Ich vermute eine neuzeitliche Aufnahme, weil es sehr durchsichtig gespielt ist. Mich fasziniert die Ausgelassenheit und die dirigentische Aufgabe, die bei der Operette handwerklich viel größer ist als bei der Sinfonik: Die Musik lebt vor allem von ihrem inneren Rhythmus. Wäre ich Lehrer, müssten meine Studenten Operette üben. Eines Tages, wenn ich Zeit dafür habe, wird dieses Repertoire eine Rolle in meinem Leben spielen. 

Mahler: Sinfonie Nr. 4

Wiener Philharmoniker, Frederica von Stade, Claudio  Abbado

1978/84. Deutsche Grammophone 

   

Mahlers Vierte, die habe ich jüngst in Toronto dirigiert. Ich tippe auf eine ältere Aufnahme. Das steht alles schön im Saft, vielleicht kann man im Paradies sogar noch entrückter sein. Anhand des Vibratos würde ich sagen, dass die Sopranistin keine Deutsche ist, richtig? Ich halte sie für eine Amerikanerin. Die Bernsteinaufnahme ist es nicht… Claudio Abbado? Hat er später ganz anders gemacht. 

Grieg: Cellokonzert, 2. Satz

Raphael Wallfisch, London PO, Vernon Handley 

2011. black box

  

Da haben Sie ein Stück gefunden, das ich tatsächlich nie gespielt habe. Muss eine Transkription sein, oder? Die siedle ich bei Grieg an … Ich kenne die Sonate nur für Kontrabass, denn zu meiner Zeit war sie nicht sehr populär. Eigentlich müsste ich sie aber kennen, denn ich habe sie zwei Mal unterrichtet. Der Cellist hier stammt wohl aus einer älteren Schule: Er leistet sich Töne, die man heute wahrscheinlich nicht mehr so stehen ließe … Wallfisch? Das erstaunt mich allerdings: Von ihm habe ich ganz tolle Sachen gehört. Was Sie alles ausgraben!

Léhar: Tatjana, Overtüre

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Michail Jurowski

2002. cpo

  

Kenne ich nicht, sage ich gleich. Meine Idee zum Anfang wäre: russisch. Oh, jetzt gerade gar nicht mehr … Eine deutsche Oper, die in Russland spielt? Ich wusste nicht mal von deren Existenz. Jurowski? Der hat vieles ausgegraben, was ja auch die Aufgabe der Rundfunkorchester ist, die leider nicht mehr alle ernst nehmen. Bei dieser Aufnahme war ich damals nicht dabei, aber ich hatte eine sehr wichtige und auch sehr schöne Zeit beim Rundfunk-Sinfonieorchester. Wir haben viel abseits des Mainstreams gespielt. Alle Chefdirigenten haben mich sehr beeindruckt, angefangen bei Heinz Rögner, dessen emotionales Musikantentum mir sehr gefallen hat. Dann kam Frühbeck de Burgos, der über ein unfassbar gutes Gedächtnis und Gehör verfügte. Marek Janowski kenne ich als besten Orchestererzieher, den ich erlebt habe. Diese Erfahrungen haben mich damals fast mehr geprägt als Dirigent – der ich damals ja noch nicht war – denn als Cellist. Solchen Ausgrabungen stehe ich übrigens generell sehr offen gegenüber, zumal wir bei unseren vielen Konzerten doch viel mehr Möglichkeiten als freie Ensembles haben, etwas Unbekanntes unterzubringen.

C.P.E. Bach: Oboenkonzert, Wq 22, 1. Satz

Ramón Ortega, Quero, KA Potsdam, Peter Rainer

2012. Genuin

 

Historisch informierte Aufnahme! Dieser Bach stammt aus Deutschland, nicht aus Italien. Ich hätte fast auf Neues Bachisches Collegium Musicum getippt, aber ich liege wahrscheinlich falsch. Potsdam? Dann ist das wahrscheinlich eine Aufnahme ohne Dirigent, mit Peter Rainer als Konzertmeister. Ganz richtig, schön phrasiert, freundlich, gesittet. Der neue Chef Antonello Manacorda hätte das verzierter, im guten Sinne des Wortes verrückter gemacht. Ich glaube, dass wir den Extremensembles für die historische Aufführungspraxis eine sehr sachdienliche Arbeit verdanken: Zunächst davon aufgeschreckt, haben wir Augen und Ohren geöffnet. Was dazu führte, dass auch die traditionellen Ensembles viele Werke neu und anders interpretiert haben als früher – auch ohne Originalinstrumente.

 Mozart: Sinfonie Nr. 38 „Prager“, 2. Satz

 Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt

 1992/94. Teldec

   

Diese Herangehensweise an die Klassik mag ich sehr. Sie ist wahnsinnig lebendig, ein bisschen überphrasiert, Pauken scharf und so weiter – das müssen genau die Pioniere der Bewegung sein, die ich eben beschrieben habe und die uns bei dieser Musik erst auf den richtigen Topf gesetzt haben. Harnoncourt wahrscheinlich… ja, klar. Sehr schön!  

Fauré: Pelléas und Mélisande

 Dresdner Philharmonie, Michael Sanderling

 2012. Genuin

  

Unsere Aufnahme erkenne ich schon an der Phrasierung. Gerade Pelléas und Mélisande von Fauré hat ein wunderschönes Kolorit. Überhaupt haben die Franzosen ja besonders in der Farbigkeit der Mittelstimmen die wunderbare Fähigkeit, uns eine Gefühlswelt nahezubringen, die wir so aus der deutschen Romantik überhaupt nicht kennen. Mich begeistert dieses zart Verschwimmende in den Innenstimmen. Ein Kollege hat das mal sehr schön gesagt: In diese Musik muss man sich hineintasten.  

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