Dass sich ihr Koffer am Interviewtag noch irgendwo am Flughafen in Kopenhagen befindet, davon lässt sich Ragnhild Hemsing nicht die Laune verderben. In Hamburg kann man ja auch shoppen, und das Konzert in der Elbphilharmonie ist erst am Abend. Die Norwegerin spielt neben der Violine auch die in ihrem Heimatland so traditionsreiche Hardangerfiedel. Wie sehr ihr norwegische Kultur und volkstümliche Musik am Herzen liegen, ist ihr auch beim Blind gehört anzumerken.
Bruch: Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26, I. Satz (Allegro moderato)
Anne-Sophie Mutter (Violine), Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (Leitung)
Deutsche Grammophon (2009) – Aufnahme: 1980
Das Bruch-Violinkonzert ist eines meiner Lieblingsstücke! Ich kenne es sehr gut, denn ich habe es gerade erst vor Kurzem aufgenommen. Die Atmosphäre auf dieser Aufnahme ist wirklich toll. Es hat einen sehr funkelnden Klang. Da ist diese Intensität im Ton, die Qualität der Interpretation ist wirklich großartig. Ich überlege, wer das sein könnte. Das ist doch Anne-Sophie Mutter! Ich habe gleich an sie gedacht, aber mich nicht getraut, es zu sagen. Man erkennt sie an dieser Wärme, an ihrem warmen Ton.
Beethoven: Violinsonate Nr. 9 op. 47 „Kreutzer-Sonate“, I. Satz (Adagio sostenuto – Presto)
Patricia Kopatchinskaja (Violine), Fazil Say (Klavier)
naïve (2008)
Dieses Stück ist in jeder Hinsicht ein Meisterwerk. Es ist fast wie ein kleines Violinkonzert. – Oh, da höre ich sofort Unterschiede zu meiner eigenen Aufnahme. Wow, das gefällt mir wirklich gut! Ich liebe die Kontraste darin, die sind sehr extrem, sehr energiegeladen. Es steckt irgendwie auch Humor darin, aber so eine Art schwarzer Humor. Es ist ein bisschen schizophren. Und sehr komplex. Wer könnte das sein? Es sind auf jeden Fall zwei herausragende Musiker. – Ah, Patricia Kopatchinskaja! Ich habe sie mal live bei einem Auftritt gehört. Ich finde sie sehr spannend. Sie zieht einen sofort in ihren Bann. Man muss ihr einfach zuhören.
Tveitt: Hardangerfiedel-Konzert Nr. 2 op. 252 „3 Fjords“, III. Nordfjord (Giocoso)
Arve Moen Bergset (Hardangerfiedel), Stavanger Symphony Orchestra, Ole Kristian Ruud (Leitung)
BIS (2002)
Das muss Arve Moen Bergset sein! Er war für mich immer wie eine Art Mentor, ich kenne ihn bestimmt schon seit fünfzehn Jahren. Dieses Tveitt-Konzert macht großen Spaß. Besonders der dritte Satz ist wirklich wie Rock ’n’ Roll. Es gibt leider recht wenige Kompositionen für Hardangerfiedel und Orchester. Geirr Tveitt ist der erste, der ein eigenes Konzert für dieses Instrument geschrieben hat. Mit den drei Sätzen beschreibt er jeweils einen Fjord in der Hardanger-Region in Norwegen. Er selbst stammte aus dieser Gegend, das hört man auch an den Tanzrhythmen, die er verwendet. In Norwegen hat jede Region ihre eigenen Spielweisen, es ist quasi ein musikalischer Dialekt. Meine Version des Konzerts wird daher zumindest in den folkloristischen Elementen ein wenig anders klingen, weil ich aus einem anderen Teil des Landes komme. Aber das ist das Schöne bei Tveitt und der volkstümlichen Musik, dass man seine eigene Identität mit einbringen darf.
Bull: Nocturne op. 2 (Version für Violine und Orchester)
Arve Tellefsen (Violine), Trondheim Symfonieorkester, Eivind Aadland (Leitung)
SIMAX Classics (2010)
Ist das Ole Bull? Mit Arve Tellefsen? Selbst wenn man sich nicht sehr für Klassik interessiert, weiß man in Norwegen, wer Arve Tellefsen ist. Er ist ein Superstar, und Ole Bull war ja quasi unser erster Superstar überhaupt. Bull sah sich selbst als eine Art neuer Paganini. Meine Schwester Eldbjørg und ich haben 2010 bei einem Dokumentarfilm über Ole Bull im Fernsehen mitgewirkt. Dabei haben wir uns auf die Suche nach seinem speziellen Klang gemacht. Auch Ole Bull war von der norwegischen Volksmusik fasziniert und einer der ersten, der sie als Kunstform etabliert hat. Zuvor war sie reine Zweck- und Unterhaltungsmusik. Bull war wie ein Rockstar zu seiner Zeit. Die Frauen fielen in Ohnmacht, als sie ihn sahen, und warfen ihm ihre Juwelen zu. Er war eine exzentrische, faszinierende Persönlichkeit. Ich wäre ihm gerne begegnet. Arve Tellefsen dagegen habe ich bereits getroffen. Meine Schwester und ich haben ihn 2020 zu unserem Kammermusikfestival in unsere Heimatstadt eingeladen. Er kam tatsächlich und spielte, das war unglaublich. All diese tollen Geschichten aus seinem Leben zu hören – das werde ich nie vergessen.
Halvorsen: Fossegrimen-Suite op. 21
Alfred Maurstad (Hardangerfiedel), Oslo Philharmonic Orchestra, Øivin Fjeldstad (Leitung)
Naxos (2000) – Aufnahme: 1954
(sofort) Halvorsen! Oh, von wann ist das? Das klingt alt … Ist das Maurstad? – Was für eine tolle Aufnahme! Halvorsens „Fossegrimen Suite“ war die erste Orchesterkomposition, in der auch die Hardangerfiedel besetzt ist. Sie wurde 1905 uraufgeführt, in jenem Jahr, als die Union Norwegens mit Schweden aufgelöst wurde und Norwegen seine Unabhängigkeit erlangte. Es ist also ein sehr wichtiges Werk für unser Land, da es auch der Findung der eigenen nationalen Identität dienen sollte. Wenn ich das höre, bekomme ich direkt Gänsehaut. Alfred Maurstad war eigentlich Violinist, spielte aber auch Hardangerfiedel. Ich mag vor allem den fünften Satz, den Fanitullen. Es ist eine Art Teufelstanz. Früher sagte man nämlich, dass die Hardangerfiedel das Instrument des Teufels sei.
Halvorsen: Fossegrimen-Suite op. 21
Ragnhild Hemsing (Hardangerfiedel), Bergen Philharmonic Orchestra, Neeme Järvi (Leitung)
Chandos (2010)
(lacht) Dies ist wohl eine neuere Aufnahme. Möglicherweise mit Neeme Järvi? – Dann bin ich es offensichtlich an der Hardangerfiedel. Ich erinnere mich noch gut an die Aufnahmesession mit dem Bergen Philharmonic Orchestra. Das war auch das erste Mal, dass ich Maestro Järvi begegnet bin. Es hat unglaublich viel Spaß gemacht
Schumann: Studien für Pedalflügel (Arr. f. Trio von T. Kirchner), 4. Innig
Vienna Brahms Trio – Boris Kushnir (Violine), Yuri Smirnov (Klavier), Orfeo Mandozzi (Cello)
Naxos (2000)
Ich liebe Kammermusik. Als Teenager hatten wir ein Klaviertrio. Aber dieses Stück erkenne ich nicht, was ist das? – Ach ja, Schumann. Aber es ist arrangiert, daher ein bisschen knifflig zu erraten. Wer spielt? – Oh, das Vienna Brahms Trio, natürlich, dann ist das Boris Kuschnir an der Violine! Mein alter Lehrer, wie schön. Wenn ich ihm jetzt so zuhöre, werden viele Erinnerungen wach. Etwa sieben Jahre habe ich bei ihm gelernt. Als meine Schwester und ich nach Wien zogen, war es nicht geplant, dass wir denselben Lehrer haben sollten, aber mit Boris hat es für uns beide so gut funktioniert. Das waren wirklich tolle Jahre in Wien. Wir hatten dort immer das Gefühl, Teil einer Metropole für klassische Musik zu sein. Das war sehr inspirierend.
Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll op. 64, III. Satz (Allegro ma non troppo – Allegro molto vivace)
Isabelle Faust (Violine), Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung)
harmonia mundi (2017)
Dies ist ein sehr spaßiges Stück von Mendelssohn. Es steckt so ein großartiger, lebendiger Humor in der Musik. Schönes Tempo hier, tolle Grundstimmung. Ist das Julian Rachlin? – Nein? Wer ist es? – Ah, Isabelle Faust. Sie spielt großartig. Als ich vierzehn war, habe ich bei meinem ersten Auftritt mit dem Oslo Philharmonic dieses Werk gespielt. Deshalb ist es immer etwas Besonderes für mich.
Grieg: Violinsonate Nr. 3 c-Moll op. 45, I. Satz (Allegro molto ed appassionato)
Eldbjørg Hemsing (Violine), Simon Trpčeski (Klavier)
BIS (2020)
Ah, ein bisschen Grieg! Das ist die c-Moll-Sonate. Wir nennen sie die „Internationale“. Grieg hat drei Violinsonaten geschrieben: Die erste ist sehr romantisch, die zweite sehr norwegisch, traditionell und die dritte ist sehr von seinen Lehrjahren im Ausland geprägt. Er hat ja auch einige Jahre in Leipzig gelebt. Ein großartiges Stück, aber wer spielt da? Ich scheue mich ein bisschen zu fragen, ob ich das bin. Es kommt mir vieles so bekannt vor. – Oh, es ist meine Schwester! Das ist Eldbjørg! (lacht) Das ist sehr lustig, denn ich habe so vieles darin von mir selbst wiedererkannt. Dann ist das Simon Trpčeski am Klavier. Sie spielt natürlich ganz wunderbar, aber das muss ich ja sagen (lacht). Ich liebe diese Eröffnung, sie ist so tief und dunkel, aber trotzdem energisch. Da kann man direkt die Energie von Eldbjørg spüren.
Pärt: Fratres (Version für Violine & Klavier)
Gidon Kremer (Violine), Keith Jarrett (Klavier)
ECM Remastered (2015)
Das Stück versprüht eine ganz besondere, eigene Atmosphäre. Ich habe es einmal mit Orgelbegleitung in einer Kirche gespielt. Das war sehr beeindruckend. Man hört dann förmlich den ganzen Raum. Es klingt spieltechnisch sehr komplex, aber die größte Schwierigkeit liegt darin, den richtigen Klang zu finden, die Kontraste, die Harmonien, die Obertöne. Wenn man sich klargemacht hat, wie es klingen soll, ist es auch einfacher, die Technik dafür anzupassen. Das hier ist wirklich inspirierend, ich möchte es gleich selbst wieder öfter spielen. Wer ist es? – Ja, Gidon Kremer fängt hier wirklich die Essenz des Stücks ein. Es hat seine eigene Sphäre und bringt dich in eine andere Welt.
Shore: Lord of the Rings – The Two Towers (Soundtrack)
„The King of the Golden Hall“
Reprise (2002)
(lacht) Das mag ich auch sehr! Wenn wir schon von verschiedenen Sphären und anderen Welten sprechen – großartig. Howard Shore ist ein ausgezeichneter Filmkomponist. Man spürt, dass er sich bei diesem Thema auch ein bisschen von keltischer Musik und Folk hat inspirieren lassen. Er hat sogar tatsächlich auch die Hardangerfiedel an einigen Stellen im Soundtrack verwendet. Man hört diese typischen Quinten, der Klang ist sehr archaisch und sehr wirkungsvoll. – Es ist viel zu lange her, dass ich diese Filme gesehen habe, ich muss sie mir unbedingt mal wieder anschauen!