Nach ihrem allerersten Auftritt in der Elbphilharmonie mit Wynton Marsalis’ bis dato noch nicht eingespieltem Trompetenkonzert nimmt sich Selina Ott Zeit für ein „Blind gehört“. Obwohl das Interview später beginnt und die Künstlergarderobe pünktlich freigegeben werden muss, kann die geheime Playlist vor Ort spontan erweitert werden. Denn die junge Österreicherin stellt sich mit großer Rätselfreude der teils kniffligen Hörherausforderung.

Tomasi: Trompetenkonzert – 1. Allegro
Wynton Marsalis, Philharmonia Orchestra, Esa-Pekka Salonen (Leitung)
Sony 1986
Tomasi-Konzert, erster Satz, aber wer spielt? Eine Aufnahme aus den Achtzigern? Maurice André? Nein, er spielt ein wenig langsam. Håkan ist es auch nicht. – Das ist Wynton Marsalis? Ich habe den Tomasi noch nie von ihm gehört, aber die Aufnahme gefällt mir gut. Das klingt ganz fein und leicht, was für die französische Musik sehr wichtig ist. Dabei ist der Tomasi irrsinnig schwer, vor allem der erste Satz mit vielen schnellen Läufen und ganz unterschiedlichen Intervallen.

Enescu: Légende
Matthias Höfs, Stefan Kiefer (Klavier)
Octavia 2010
Das ist Enescus „Légende“. Ein ganz besonderes Stück, weil es original für Trompete und Klavier komponiert wurde, davon gibt es nicht viele. Es dauert zwar nur sechs Minuten, aber schafft eine besondere Atmosphäre, die wahrscheinlich jeder Trompeter liebt und der sich kaum ein Publikum entziehen kann. Der Klang am Anfang ist ganz dunkel. Das könnten Alison oder Reinhold sein. – Nein? Im Trompeter-Erraten bin ich schlecht. Ich habe meistens eine Aufnahme, die sich für mich natürlich anfühlt und dann höre ich andere Einspielungen oft nicht mehr. – Matthias Höfs also. Er ist in einer der wenigen, der den Enescu auf einer Drehventil-Trompete spielt. Das mache ich auch gerne, das ist ein wenig die deutsche und österreichische Tradition.

Vasilenko: Trompetenkonzert – 3. Allegro vivace
Reinhold Friedrich, Göttinger Symphonie Orchester, Christoph-Mathias Mueller (Leitung)
MDG 2012
Dritter Satz von Vasilenko. Ist das Dokschitzer? – Wer hat das noch aufgenommen? Der Reinhold? – Das Konzert habe ich in der zweiten Runde des ARD-Wettbewerbs gespielt. Ein lustiges Stück! Gleich kommt eine Stelle, die so klingt wie diese Disney-Melodie von den sieben Zwergen. Das macht richtig Spaß! Als ich das im Musikverein aufgeführt habe, sagte danach eine ältere Dame im Publikum entrüstet (wechselt ins Wienerische): „Ja, sowas, des g’fallt ma aber gar ned!“ Als ob das etwas ganz Modernes wäre, dabei ist das Konzert auch schon achtzig Jahre alt. Ich muss aber sagen, dass die Klavierreduktion für mich besser funktioniert. Das Orchester ist zu dick komponiert.

Ives: The Unanswered Question
Alison Balsom, Britten Sinfonia, Scott Stroman (Leitung)
Warner 2021
(hört lange zu) Ich glaube nicht, dass ich das kenne. – Ein modernes Stück? Dann ist es der Håkan! – Nein? Und das ist ein Trompetenkonzert? Das habe ich noch nie gehört. – Der Titel passt gut und macht nachdenklich, das ist sehr spannend. Da haben Sie jetzt mein Interesse geweckt, ich werde mir das später noch einmal anhören.

Hummel: Trompetenkonzert – 2. Andante
Lucienne Renaudin Vary, Luzerner Luzerner Sinfonieorchester, Michael Sanderling (Leitung)
Warner 2022
Zweiter Satz, Hummel! Mal schauen, ob ich jetzt den Solisten erkenne. Ist das Reinhold? – Eine Trompeterin? Dann ist es Lucienne. Sie spielt in Es-Dur, ich bevorzuge die Originaltonart E-Dur, weil es da mehr Brillanz hat. Gutes Tempo, auch eher ruhig genommen. Dieser zweite Satz kann schon magisch werden im Konzert. Die Klassiker wie Hummel geben mir viel, weil man unendlich lange an ihnen feilen kann. Nicht dass es perfekt wird, das wäre falsch in der Musik, aber so, dass die Interpretation immer musikalischer wird. Die Tempi und Energien sind mit jedem Orchester und jedem Dirigenten anders.

HK Gruber: Trompetenkonzert – 2. Gone Dancing
Håkan Hardenberger, Gothenburg Symphony Orchestra, Peter Eötvös (Leitung)
Deutsche Grammophon 2006
Das weiß ich vom ersten Ton an (singt mit), und es ist Håkan, entweder mit dem New York Philharmonic oder den Göteborger Symphonikern. Ich habe „Aerial“ zum ersten Mal im April im Geburtstagskonzert für und unter der Leitung von Heinz Karl gespielt. Ich hatte den Stress meines Lebens in der Vorbereitung, denn es geht kaum schwieriger als in diesem Konzert. Man wechselt zwischen C-Trompete, Piccolo und Kuhhorn, letzteres spielt man ohne Mundstück, was im Klang magisch, aber am Ansatz auch sehr unangenehm ist. Im ersten Satz baut man zudem die Trompete auseinander, spielt nur mit dem ersten Zug und so weiter. Da hat das Publikum einiges zu sehen. Der zweite Satz ist übrigens von einem Sketch mit Fred Astaire inspiriert, den Heinz Karl und seine Partnerin im Fernsehen gesehen haben. „Aerial“ wurde ja für Håkan geschrieben, insofern war es nicht leicht, in seine Fußstapfen zu treten. Aber er und Heinz Karl haben mich mit offenen Armen empfangen und mir das Vertrauen gegeben, meine ganz eigene Interpretation zu entwickeln. Ich hoffe, dass ich „Aerial“ bald wieder spielen darf. Es ist mittlerweile neben dem Haydn-Konzert mein Favorit. Ich bin mit Håkans Aufnahmen aufgewachsen, und bis heute steht er für mich bei den Solisten ganz oben. Vor Kurzem habe ich ihm ein Foto von unserer ersten Begegnung gezeigt. Damals war ich vierzehn, er hat im Musikverein Haydn gespielt, und ich durfte ihm vorspielen. Heute sind wir regelmäßig in Kontakt, und es ist unbezahlbar, wie viel er in den letzten vierzig Jahren gemacht hat, um die Trompete als Solisteninstrument ins Licht zu rücken.

Clarke: The Prince of Denmark’s March
Ludwig Güttler, Blechbläserensemble Ludwig Güttler
Berlin Classics 2020
Das kennt wahrscheinlich jeder. Es müsste von Händel, Telemann oder Purcell sein, aber mir will nicht einfallen, wie es heißt. – Ach, Clarke? Den Titel habe ich noch nie gehört, das gibt es doch gar nicht! Es sind jedenfalls moderne Instrumente. Klingt ganz hervorragend. Spielt German Brass? – Ludwig Güttler war ehrlich gesagt bisher nicht auf meinem Radar. Mit Blechensembles mache ich ganz wenig, vielleicht kommt das noch in der Zukunft.

Say: Trompetenkonzert – 3. Adagio
Gábor Boldoczki, Sinfonietta Cracovia, Jurek Dybal (Leitung)
Sony Classical 2016
Das Stück kenne ich auch nicht. Ist es die Tine? – Ein Ungar? Dann ist es Gábor Boldoczki. Ich lerne ihn bald kennen. Wir werden im August gemeinsam das Doppelkonzert von Fazıl Say spielen. Das hier ist aber nicht von Say, oder? – Doch! Das gefällt mir sehr gut. Ich weiß, dass das Konzert für ihn geschrieben wurde, entsprechend groß war wohl die Herausforderung, eine eigene und sinnvolle musikalische Gestaltung zu entwickeln. Ich jedenfalls könnte mir die Musik nicht einfach nur aus der Partitur heraus vorstellen und im Inneren hören.

J. Strauss: Ouvertüre zu „Die Fledermaus“
Mnozil Brass
Südpolentertainemt 2022
Das ist mein ehemaliger Professor Roman Rindberger mit Mnozil Brass. Aber wie das Stück heißt? Ich habe es schon ganz oft gehört und könnte es sogar mitsingen. Da erwischen Sie mich gerade kalt, das ist ja peinlich. Immerhin habe ich den Trompeter erraten! Mit Roman habe ich viele Höhen und Tiefen erlebt, ich habe ja im Bachelor und Master bei ihm in Wien studiert. Mnozil Brass sind in Österreich Legenden. Ich habe all ihre Shows und Videos gesehen, die sind so unglaublich lustig. Ich genieße ihre Auftritte als Zuhörer, kann mir selbst aber nicht vorstellen, aus dem klassischen Korsett auszubrechen, noch dazu mit Schauspiel auf der Bühne. Das würde sich nicht richtig anfühlen.

Schnyder: Trompetensonate
Simon Höfele, Frank Dupree (Klavier)
Berlin Classics 2022
Das ist Ligetis „Mysteries of the Macabre“ in der Klavierreduktion, oder? – Kein klassischer Komponist, sagen Sie? Spielt das Simon? Wir haben zur selben Zeit in Karlsruhe studiert, sind uns aber vielleicht einmal über den Weg gelaufen. Ich habe das Stück schon einmal gehört. Mit Frank am Klavier? (hört lange zu) Ich kenne die Aufnahme, aber stehe auf der Leitung. – Daniel Schnyder! Er hat ein richtig cooles Trompetenkonzert geschrieben, ich hoffe, dass ich das einmal spielen darf. Die Musik gefällt mir wirklich gut, weil sie auch gekonnte Einflüsse aus Swing und Jazz hat.

Neruda: Trompetenkonzert – 1. Allegro
Tine Thing Helseth, Norwegian Chamber Orchestra
Simax Classics 2007
Neruda, erster Satz! Das dauert jetzt zwei Minuten, bis die Trompete einsetzt. Das ist die Tine! Sie hat eine ganz individuelle Luftführung, die ich sofort erkenne. Sie hat übrigens am gleichen Tag Geburtstag wie ich. Leider kenne ich sie nicht persönlich, genauso wenig wie Lucienne und Alison. – Das ist eines der Pop-Klassik-Konzerte. Manche Solisten spielen es mit dem Corno da Caccia, für das es ursprünglich geschrieben wurde. Das habe ich noch nicht gemacht. Es steht auch in Es-Dur, aber ehrlich gesagt finde ich das Konzert nicht so super spannend. Gerade der erste Satz ist mit seinen vielen Wiederholungen irrsinnig lang.