München, Schwabing. Leicht versteckt liegt das Häuschen, in dem William Youn in einer Wohngemeinschaft lebt. Antiquitäten, wo man hinschaut: von der Biedermeier-Chaiselongue über die golden barocke Kaminuhr mit Pferd und Postkutsche bis hin zu einer Büste von Prinzessin Maria Louise von Preußen, deren Schönheit von Dichtern gefeiert wurde. In der Ecke eine Tiffany-Lampe, an der Wand kleinformatige Aquarelle und Ölbilder, Landschaften, Stillleben. Im Regal viele Porzellanfigürchen und Nippes. „Meine Mutter in Korea sammelt alte Figuren“, erzählt Youn, und er hat dieses Faible geerbt. Gerne besucht er Flohmärkte. Auf einer Auktion hat er sogar einmal bei einem originalen Brief von Beethoven mitgeboten und stieß – erwartungsgemäß – mit seinem Budget an seine Grenzen. Erwartet hat er allerdings jetzt nicht, dass mancher historisch verbürgter Klaviergott mit der Interpretation enttäuscht.
Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 – 2. Adagio
Alfred Brendel, Wiener Philharmoniker, Sir Simon Rattle
Philips Records 1999
Das ist ein deutsches Orchester … Der Pianist scheint nicht der gleichen Meinung wie der Dirigent zu sein. Der wirkt sehr ehrlich, bodenständig, „down to Earth“. Ist die Aufnahme aus den Siebzigern? Von 1999? Die Aufnahme mit Simon Rattle? Dann ist es Alfred Brendel. Ich finde es faszinierend, dass er vom ersten Ton an ein Konzept hat. Der Dirigent hätte gerne das Tempo etwas flüssiger, etwas romantisierter, aber Brendel weiß genau, wie er es haben will. Ich bewundere ihn sehr. Er kam letztes Jahr ins Konzert – wirklich rührend, denn es gibt nur wenige Musiker, die in die Konzerte anderer gehen. Er saß bescheiden in der letzten Reihe. Brendel war von der pianistischen Physis vielleicht nicht der Begabteste, aber durch seinen Intellekt, seine Hingabe erreichte er eine emotionale Ebene, die über die pianistische Leistung hinausgeht und die so inspirierend ist. In meiner Heimat Korea ist der Leistungsgedanke sehr ausgeprägt. Wettbewerbe spielen eine große Rolle, doch es fehlen die Möglichkeiten, sich musikalisch zu entfalten. Ich bin früh nach Amerika, mit dreizehn Jahren schon, und später nach Europa, weil ich ahnte, dass Leistung und Technik nicht das Wichtigste bei der Interpretation sind.
J. S. Bach: Wohltemperiertes Klavier II – Fuga 3 à 3
Rosalyn Tureck
Deutsche Grammophon 1952
Sehr interessant. Alt und neu zugleich. Alt der Klang, besonders das Ritardando am Ende. Neu, dass ohne Pedal gespielt wird. Ich würde sagen, eine Frau … Diese Linie, diese Eleganz des Tones, sehr fein, aber auch sehr gezielt. Wer ist das wohl? Ingrid Haebler? Doch eigentlich ist diese Dame interessanter. Sie sagen mir „Glenn Gould“ als Stichwort? Ach, ist das diese Amerikanerin? Rosalyn Tureck? Aber da fehlen doch die Verzierungen! Ich liebe ihre Interpretation der „Chromatischen Fantasie“. Mein Lehrer am Comer See, der bei Tureck studiert hatte, erzählte mir die Geschichte, dass sie während des Übens einmal ohnmächtig geworden sei – oder vielleicht auch eingeschlafen? Und als sie wieder aufwachte, wusste sie, wie man Bach spielt. So ein Erlebnis hatte ich noch nicht.
J. S. Bach: Musikalisches Opfer BWV 1079 – Ricercar à 3
Alexandra Sostmann
Tyxart 2020
Eine Frau. Sehr ernsthaft, sie stellt sich nicht in den Vordergrund, das Wichtigste ist ihr die Musik. Ist sie eine Russin? Ich würde es weniger distanziert spielen, aber ich finde es toll, wenn man die Konstruktion hört. Sie ist wie eine Architektin, sie beobachtet die Struktur von außen, aber ist nicht in dem Gebäude. Es hat auch mit dem Werk, mit Bachs „Ricercare“ zu tun, das sehr konstruiert ist. Struktur, Präzision, Transparenz sind ihr sehr wichtig. Sie spielt bestimmt auch viel zeitgenössische Musik.
Mozart: Fantasie c-Moll KV 475 – 1. Adagio
Wilhelm Kempff
Deutsche Grammophon 1962
Ich finde das langweilig. Wo ist da die mysteriöse Stimmung? Ein Klavieraristokrat der Fünfzigerjahre war das? Wilhelm Kempff?! Aber nein! Das darf doch nicht wahr sein! Ich finde ihn eigentlich großartig, vor allen Dingen Beethovens Klavierkonzerte mit den Berliner Philharmonikern unter Fritz Leitner und manche Mozartsonaten. Aber hier ist er nicht gut. Dabei bin ich Mitglied der Kempff-Stiftung!
Mozart: Fantasie c-Moll KV 475 – 1. Adagio
Menahem Pressler
La Dolce Vita 2017
Dieser Pianist ist schon älter. Claudio Arrau? Nein? Menahem Pressler! Er kann die Linie zwar nicht mehr gut kontrollieren, der eine Ton ist schwerer als der andere. Doch er kann die Pausen zum Klingen bringen. Toll! Das erste Thema (singt es nach) und die zwei Kommentare dazu müssen unterschiedlich sein, wie ein Komma und ein Fragezeichen. Kempff aber spielt alles gleich, Pressler nicht. Er macht Unterschiede. Er sagte uns immer, dass die meisten Pianisten zu laut sind.
Mozart: Fantasie c-Moll KV 475 – 1. Adagio
Andreas Staier
Harmonia Mundi 2012
Dieser Pianist hat viel über Farben nachgedacht, es klingt fast wie bei Beethoven. Toll und radikal, deshalb denke ich an Andreas Staier. Beim Hammerflügel braucht man viel Kontrolle über die Finger, weil der Ton sofort anspricht. Man muss auf das Gewicht achten, mit der man die Tasten drückt, und muss viel mehr sprechen und deklamieren und Rubato einsetzen. Auch bei Mozart. Auf einem modernen Flügel kann man vieles mit Dynamik und Pedal ausgleichen.
Haydn: Klaviersonate C-Dur Hob XVI: 50 – 2. Adagio
Lang Lang
Deutsche Grammophon 2008
Alles sehr romantisch, doch es hat wenig mit Haydn zu tun. Mutig, würde ich sagen, doch wenn man sich fragen würde, wie Haydn das gespielt hätte, käme man zu einem anderen Ergebnis. Fazıl Say? Nicht? Lang Lang? Na, ja.
Chopin: Nocturne F-Dur op. 15/1
Vladimir Horowitz
Sony Music 1957
Mir gefällt es, dass der Pianist das Stück nicht so weich und melancholisch spielt wie viele Chopin-Interpreten, sondern mit fast männlichem Stolz. Aber ich weiß nicht, wer da spielt. Meine Lieblingsversion von Alfred Cortot ist es aber nicht. Ist das Rubinstein?
Chopin: Nocturne F-Dur op. 15/1
Arthur Rubinstein
Sony Music 1967
Das gefällt mir noch viel besser. Welcher wohl von den beiden Rubinstein ist? In der ersten Version klingen manche Phrasen forciert, die zweite Aufnahme hat mehr Wärme, so, wie ich das von Rubinstein kenne. Und dennoch weiß ich nicht so ganz, wer nun wer ist. Aber ich zeige Ihnen jetzt meine Lieblingsversion (tippt auf seinem Smartphone).
Chopin: Nocturne F-Dur op. 15/1
Alfred Cortot
Naxos 1951
Diese Verschiebungen, dieses Schattenspiel, diese innere Freiheit! In Boston, wo ich studierte, fand ich in einem Plattenladen Vinyl-LPs von Rubinstein. Es gibt nichts Besseres, nicht etwa, weil er ein Meister des schnellen Spiels gewesen wäre, sondern weil er verstand, den Moment musikalisch auszukosten. Das Stück mag nur wenige Minuten andauern, aber Cortot offenbart eine ganze Welt. Später habe ich in einem Interview mit Alfred Brendel gelesen, dass dieser nach dieser Aufnahme aufgehört habe, Chopin zu spielen.
Schubert: Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960 – 2. Andante
Elisabeth Leonskaja
Teldec 1989
Oh, das habe ich ja gerade auf meiner neuen CD eingespielt. Zu viel Pathos. Ja, Schubert hat sehr gelitten, aber in seiner Traurigkeit fand er Schönheit und Hoffnung. Seine Musik berührt von ganz innen, sein Leiden muss nicht nach außen getragen werden, sonst wirkt es plakativ. Hier muss der Pianist mitsingen, er muss im Fluss bleiben. Ein Russe? Sokolov? Oh, da war sogar ein falscher Ton! Nein, ist das Leonskaja? Wirklich? Die kenne ich doch auch ganz anders!
Schubert: Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960 – 2. Andante
Grigory Sokolov
Opus 111 1996
Ist das jetzt Sokolov? Der genaue Anschlag, der silbrige Klang ist doch typisch für ihn. Ich habe eine ambivalente Haltung zu ihm. Früher habe ich ihn sehr bewundert und war in drei Konzerten. Vom ersten mit Werken von Haydn und Prokofjew war ich fasziniert: diese Hingabe an die Musik! Jahre später, im zweiten Konzert, spielte er eine Beethoven-Sonate. Ich konnte nicht mehr atmen. Keine Spontaneität, alles war bis ins kleinste Detail überlegt. Man hat so viel erlebt und ist gefangen in der Perfektion, aber Perfektion ist nicht wirklich wichtig, und ich weiß nicht, warum so viele Menschen darunter auch große Kunst verstehen. Wichtiger ist, die Menschen mit der Musik zu berühren, in ihr Herz zu dringen. Ich habe großen Respekt vor Sokolov, möchte aber mit siebzig Jahren nicht so spielen, wie er heute spielt.